Indien und seine unwahrscheinliche Wahl

01.05.2004

"Ein Glanzpunkt der indischen Demokratie"

Unter dieser Überschrift verfasste Salman Rushdie eine Kommentierung der indischen Parlamentswahlen im Mai dieses Jahres. Rushdie, Indiens führender Romancier in englischer Sprache, wurde 1947 in Bombay geboren und ist der Autor von “Mitternachtskinder” und “Die Satanischen Verse”. Er lebt heute in New York und beschreibt aktuelle Zeitentwicklungen mit einer prägnanten aber immer ironisierenden Sprache. (Sein Artikel erschien in deutscher Übersetzung in der FAZ vom 15.05.04)

Rushdie spricht von einem gewaltigen Schock für Viele und vergleicht das Wahldebakel der NDA (National Democratic Alliance) unter Führung der BJP (Baratiya Janata Party, Hindu-Nationalistische Partei) mit der Niederlage Indira Gandhis 1977. Damals wie heute machten die indischen Wählern allen Medien, Politikern und Wahlprognostikern einen Strich durch die Rechnung. “Beide Wahlen sind Glanzpunkte in der Geschichte der indischen Demokratie. Eigenwillige Wähler, die nicht tun, was man von ihnen erwartet, sind etwas Gutes.”

In der Zeit vor den Wahlen 1977 hatte Indira Gandhi ein “autokratisches Notregime” geschaffen, als man ihr 1975 Wahlfälschungen nachgewiesen hatte und zahlreiche Verletzungen der Bürger- und Menschenrechte, darunter die Zwangssterilisation von Frauen und Männern. Offensichtlich waren auch jetzt die Wähler von den groben Verfehlungen der herrschenden hindu-nationalistischen Regierung abgestossen. Vor allem aber hatte die “glanzvolle” Wirtschaftspolitik nur die Reichen reicher gemacht und die Armen, vor allem die Landbevölkerung noch ärmer werden lassen. Selbst die geschönten Statistiken der Regierung sprechen von über 260 Millionen Menschen, die in absoluter Armut leben. 70 Prozent der ländlichen Bevölkerung sind chronisch unterernährt. Die Schere zwischen dem strahelnden Indien des Glanzes und dem Indien der Hoffnungslosigkeit weitet sich immer mehr. Dazu kamen die Bedrohung der religiösen Minderheiten durch eine Radikalisierung der fanatischen Hindus. Eine Entwicklung, die nicht nur Arundhati Roy als tendenziell faschistisch beschrieben hatte.

In der Tat hatte mancher indische Intellektuelle oder Angehöriger einer religiösen Minderheit die letzten Wochen im Ausland verbracht, einen Wahlsieg der BJP befürchtend, die die Tendenzen zu einer radikalen Hinduisierung der indischen Öffentlichkeit bestätigt hätte. Mancher befürchtete die Siegesfeiern, die Ausschreitungen gegen Muslime, Christen oder andere Minderheiten im Gefolge hätten haben können. Alles ist aber ganz anders gekommen. Entgegen aller Wahlprognosen hat Atal Bihari Vajpayee, der Ministerpräsident dieser hinduistischen Partei eine peinliche Schlappe hinnehmen müssen. Zwar hat auch die siegreiche Kongresspartei keine „unbefleckte“ Vergangenheit, insbesondere Indira Gandhis Regierungsstil triefte von Verfehlungen; die seit Nehru als „säkular“ ausgerichtete Partei vertritt aber die Ansicht, dass Indien allen Indern, allen seinen Ethnien und Glaubensgemeinschaften gehören müsse. „Unter dem Schirm der siegreichen Kongresspartei fühlen sich die Minderheiten sicherer“ kommentiert Erhard Haubold in der FAZ vom 26.05.04 und er blickt auf die vorangegangene Entwicklung in Indien zurück. „Hindu-nationalistisch zu denken galt plötzlich als schick. Das Whiskeyglas in der Hand, wurde von ‚diesen Muslimen’ geredet, deren Heimat nicht Indien, sondern die panislamische ‚umma’ sei und die sich (dreizehn Prozent der Bevölkerung) so rasch vermehrten, dass die Hindus eines Tages zur Minderheit im ‚eigenen Land’ werden könnten. Oder von ‚diesen Christen’ (etwa zwei Prozent), den Angehörigen der Religion der einstigen britischen Herrscher, die mit ausgezeichneten Schulen oder Krankenhäusern nur Konvertiten gewinnen wollten.“

Vor zwei Jahren war es in Gujarat, dem industrialisierten, wohlhabenden Bundesstaat an der Westküste Indiens, der Heimat Mahatma Gandhis, zur "schlimmsten organisierten Gewalt gegen eine religiöse Minderheit in der Geschichte Indiens", wie die "Hindustan Times" schrieb, gekommen. Der Tod von etwa 50 Hindu-Pilgern, darunter viele Frauen und Kinder, in einem wartenden Personenzug auf dem Bahnhof von Godhra provozierte ein Pogrom gegen die Muslime Gujarats: Über zweitausend Menschen wurden erschlagen, bei lebendigem Leib verbrannt, Hunderte Frauen wurden vergewaltigt. Die Polizei blieb tatenlos, trieb die Opfer ihren Mördern zu und versorgte den Hindu-Mob mit Benzin zum Abbrennen muslimischer Hütten. Ministerpräsident Vajpayee, allgemein respektiertes Oberhaupt der BJP-Regierung in Delhi, lies sich viel Zeit, bis er das Verbrechen verurteilte. Er verweigerte die Absetzung des zur BJP gehörenden Chefministers Narendra Modi, in dessen Verantwortlichkeit die Vorgänge in Gujarat gehörten. Bis heute ziehen sich die Aufklärung des Verbrechens und die Entschädigung der Überlebenden hin. Unter vielen Hindus Gujarats, herrscht die Meinung vor, daß den Muslimen ab und zu eben eine Lektion erteilt werden müsse, da sie sich sowieso viel zu viel vermehrten.

Die staatliche Tolerierung eines Verbrechens hat sich tief eingegraben in das Bewusstsein der Minderheiten. Sie mussten durchaus damit rechnen, dass die Generation der Modis, radikale und intolerante Hindus auch die Macht in Delhi übernehmen könnte. Der "Freiraum" für Menschenrechte sei geringer geworden, findet Peter de Souza, Professor am Centre for the Study of Developing Societies in Delhi. Wie anderswo würden alle Muslime als potentielle Terroristen dämonisiert, heißt es, dabei seien doch die hinduistischen Bombenleger der tamilischen Befreiungsorganisation LTTE in Sri Lanka die "erfolgreichsten" Terroristen der Welt.

Der neue Ministerpräsident Manmohan Singh hat "Gujarat" eine Priorität seiner Regierung genannt. Singh ist im nord-westlichen Bundesstaat Punjab geboren und gehört als erster Ministerpräsident Indiens der Religionsgemeinschaft der Sikhs an. Der promovierte Wirtschaftswissenschaftler gilt als „Befreier“ der Wirtschaft von den Zwängen der unter Nehru eingeführten indischen Variante des Sozialismus. Seine Perspektive einer „dynamischen Marktwirtschaft mit sozialem Gewissen“ hatte er schon nach 1991 als Finanzminister propagiert. Singh hat in Chandigarh und Cambridge Wirtschaftswissenschaften studiert und in Oxford promoviert. Er gilt als Saubermann der indischen Politik, was schon eine herausragende Qualifizierung bedeutet. Im Jahre 1995 wurde er gar als „ehrlicher Mann des Jahres“ ausgezeichnet.

Neben Gujarat hat Singh auch für eine „vernünftige“ Lösung in Ayodhya ausgesprochen, der Stadt, in der militante Hindus eine muslimische Moschee zerstört hatten. Auch eine Entspannungspolitik gegenüber dem Nachbarn Pakistan will er intensivieren. Präsident Musharraf hat die Wahlgewinnerin und die Macht hinter dem Ministerpräsidenten, Sonia Gandhi, zu einem Besuch nach Pakistan eingeladen. Alles sieht nach einer erneuten Friedensinitiative für Indien und Pakistan aus.

Was aber hat zu dem rätselhaften Erfolg Sonia Gandhis geführt? Vajpayee hatte die Wahlen siegessicher vorgezogen und einen Wahlkampf mit dem Slogan „Strahlendes Indien“ geführt. Auf dem Hintergrund einer achtprozentigen Wachstumsrate im Jahre 2003, und 10,4 % Wachstum im ersten Vierteljahr 2004, einem allseits gelobten Reformkurs in Delhi, eines verzagten Wahlkampfes der Kongresspartei und dann noch einer indische Kricketmannschaft, die unmittelbar vor den Wahlen die Gegner aus Pakistan bezwang, schien sein Sieg gesichert zu sein.

Das “glänzende, strahlende Indien”, der Wahlslogan der BJP-Regierung galt nur für das Indien der Städte. Indiens Lebensgefühl ist Wohlgefühl, posaunte sie der Nation ein. Vierzig Milliarden Rupien, mehr als die Hälfte des Jahresbudgets für die ländliche Entwicklung seien im Wahlkampf für Propaganda ausgegeben worden, der Löwenanteil von der BJP. Sonia Gandhis Wahlkampf stellte dagegen Reformen in den Mittelpunkt, die besonders die von der Globalisierung geschädigten Armen, vor allem die Bauern, die noch heute den Grossteil der Bevölkerung ausmachen, im Blick zu haben. Unermüdlich reiste Frau Gandhi durch die Bundesstaaten und zeigte ihr „Herz für die Armen“. Sicherlich hatte auch das Auftreten ihrer beiden Kinder, Rahul und Priyanka eine starke Wirkung. Jeder Auftritt der beiden wurde breit in den Medien dargestellt. Diese größte Demokratie der Welt, hat eben bis heute ihre Grundlage in Familiendynastien und Persönlichkeitskult – die Nehru/Gandhi-Familie wird wie eine Königsfamilie verehrt. Offen wird heute schon darüber gesprochen, dass Rahul Gandhi, Sohn von Sonia und dem ermordeten Rajiv Gandhi bei den nächsten Wahlen in fünf Jahren zum Premier Indiens aufsteigen könnte.

Arundhati Roy, die preisgekrönte indische Literatin und Zivilgesellschafts-Aktivistin kommentierte das Wahlergebnis in einem Artikel, der in „Outlook India“ unter dem Titel „Darkness passed…“ (Die Dunkelheit ist verschwunden) erschienen ist: „Für viele von uns, die die Mainstream-Politik befremdet, gibt es nur wenige flüchtige Augenblicke der Feier. Heute ist einer von ihnen… Als Indien zur Wahl gegangen ist, hatten wir über die gefährlichen Wechselwirkungen (cross-currents) des Neoliberalismus mit dem Neo-Faschismus debattiert – ein gewalttätiger Angriff auf die Armen und die Minderheiten. Keiner der Gelehrten und Wahlstatistiker hatten dieses Ergebnis vorausgesehen. Die vom rechten Flügel der BJP geführte Koalition ist nicht nur aus der Macht gewählt worden, sie ist auch gedemütigt worden…“

Martin Kämpchen, ein profunder Indienkenner, der regelmäßig in der FAZ publiziert wiederum charakterisiert die Essayistin Roy so: „Kein Akademiker, von seiner Kenntnis zur Differenzierung genötigt, kann die Zusammenhänge von Macht und Missbrauch mit so beängstigender Einfachheit darstellen. Roy zielt unmittelbar auf einen moralischen Appell, doch fühlen sich ihre Zuhörer und Leser, von dem Stahl ihrer Worte durchbohrt, zunächst wie erstarrt und ohnmächtig. Was kann man noch tun in einem Land, das die Autorin als „Irrenhaus“ bezeichnet?“ (FAZ vom 22.05.04) Doch ein wenig Hoffnung leuchtet auch bei Roy am Ende ihres Artikels auf: „Hopefully, things will change. A little. It’s been a pretty hellish six years.“ („Hoffnungsvoll, die Dinge ändern sich. Ein wenig. Es war eine ziemlich höllische Zeit die letzten sechs Jahre.“)