Schule ist bunt
Eine interkulturelle Waldorfschule im sozialen Brennpunkt

01.11.2007

Auszug aus «Schule ist bunt - Eine interkulturelle Waldorfschule im sozialen Brennpunkt

Der Ort

Eine der wichtigsten Aussagen des Leitbildes ist diese: «Wir gehen dorthin, wo wir gebraucht werden.» So schlicht der Satz formuliert ist, so treffsicher drückt er eine Grundüberzeugung der Lehrerinnen und Lehrer der Interkulturellen Waldorfschule aus: Wenn man erreichen möchte, dass wirklich alle Kinder einen Zugang zur Schule finden können, dann geht es nicht an, im Grünen zu bauen und zu warten, dass diese Kinder kommen, sondern dann muss die Schule dort sein, wo die Kinder leben. Ein solcher Ort ist gefunden worden, er ist für eine Schule eher ungewöhnlich.

Ein Lidl-Discounter, ein türkischer Supermarkt, ein Asia-Shop, ein Call-Center, ein Fitness-Studio - das ist die unmittelbare Nachbarschaft der Interkulturellen Waldorfschule, und Nachbarschaft meint hier: das nächste Stockwerk. Denn die Schule befindet sich im ersten Stock eines ursprünglichen Möbelverkaufshauses, neuerdings sind noch Räume in einem anderen Teil des Kastenbaus dazugekommen, zu denen man quer über den Hof kommt. Vor dem Gebäude, zur Straße hin, wachsen eine Reihe von Platanen, die ein wenig Leben und Vogelgesang in dieses Szenario bringen. Und hinter den Platanen beginnt ein riesiger Parkplatz, der immer wieder für Verkaufsausstellungen genutzt wird - und vor allem: für die «Mannheimer Mess», die Kirmes, die im Frühjahr und Herbst ihre Buden öffnet, mit Schießbuden, Schaustellern und einer Vielzahl von Karussells.

Will man diesen Ort charakterisieren, so kann man sagen: Er ist «mittendrin» - und genau so will es das Kollegium. «Mittendrin» meint hier zunächst: mitten in Neckarstadt-West, einem sozialen Brennpunkt Mannheims mit einem Migrantenanteil von fast 50 Prozent - bei den Kindern noch höher -, einem multikulturellen Mikrokosmos, aber eben auch einem sogenannten Problemviertel: Die Zahl der Arbeitslosen, der Sozialhilfeempfänger, der Straftaten liegt höher als in fast allen anderen Vierteln der Stadt.1

«Mittendrin» meint auch, dass die Schule sich nicht abschottet: Handel und Arbeitsleben sind Tür an Tür - und das wird von beiden Seiten akzeptiert und gewollt. Ohne Berührungsängste nehmen die Kinder Kontakt zu den Erwachsenen der Umgebung auf, und in den Pausen lässt sich beobachten, wie Angestellte aus den Büros dem bunten Treiben auf dem Hof zuschauen. Selbst in schwierigen Situationen konnten bisher einvernehmliche Lösungen gefunden werden. Beispielsweise hatten die Mitarbeiter des Call-Centers Probleme mit dem Lärm in den Pausen - sahen aber ein, dass Kinder auch Möglichkeiten brauchen, laut sein zu dürfen. Deshalb waren sie sofort mit einer dankenswerten Initiative des Vermieters einverstanden: Er hat ihnen eine Klimaanlage eingebaut, sodass sie in den Pausen auch im Sommer die Fenster geschlossen halten können, und der Vermieter wird zusätzlich im Schulhof ein schallschluckendes Zeltdach errichten. […]

Angstfreies Lernen

Es ist schon dargestellt worden, dass in der Interkulturellen Waldorfschule ernst gemacht worden ist mit dem Gesamtschulprinzip, wirklich eine Schule für alle Kinder zu sein; es ist ein Bild dieser Kinder skizziert worden mit ihrer Lebendigkeit und Offenheit, aber auch ihren Schwierigkeiten. Entscheidend ist nun, dass das Lernen ohne Angst und Leistungsdruck geschehen kann. Gerade im Umgang mit Migrantenkindern und Kindern aus bildungsfernen Schichten zeigt sich, wie pädagogisch sinnvoll der an Waldorfschulen praktizierte Verzicht auf das «Sitzenbleiben» ist. Denn die Kinder bekommen Zeit, sich allmählich in die neuen Inhalte einzuleben und sich die erforderlichen Fähigkeiten anzueignen, sie gewinnen Sicherheit in der immer vertrauter werdenden Klassengemeinschaft. Inzwischen haben eine Reihe von Gehirnforschern herausgefunden, wie kontraproduktiv eine Atmosphäre von Angst für das Lernen ist […]

Es ist schon darauf hingewiesen worden, dass manche «Quereinsteiger» mit massiven Ängsten kommen, die bis zu körperlichen Symptomen wie etwa Bauchschmerzen beim Rechnen gehen. Auch sprachlich haben einige Migrantenkinder zunächst Blockaden: Sie wollen keine Schwäche zeigen, sie setzen sich unter den Perfektionismusdruck, gleich richtige Sätze zu sprechen, und weil das nicht gelingt, verstummen sie. Angesichts solcher Hemmungen ist es wichtig, im Unterricht, eine Atmosphäre zu schaffen, in der Fehler zugelassen werden […]

Die entscheidende Gestalt in diesem Zusammenhang ist die des Klassenlehrers. An der Interkulturellen Waldorfschule gibt er nicht nur den allmorgendlichen Hauptunterricht und sein Fach, sondern er begleitet die Klasse, zumindest am Anfang, auch im Fachunterricht. Das Mittagessen nimmt er zusammen mit den Kindern ein, wobei das Anregen von Esskultur sich als wichtige pädagogische Aufgabe erweist. Manchmal ist er bis zum Schulschluss anwesend. Damit gibt er den Kindern das, was sie am nötigsten brauchen: eine verlässliche Orientierung. Bei allen Unsicherheiten - den sprachlichen Defiziten, den Verunsicherungen, die mit dem Wahrnehmen der eigenen kulturellen Differenz zusammenhängen, manchmal dem Zerbrechen der Familien - ist der Klassenlehrer, der dem Kind morgens bei der Begrüßung in die Augen schaut und ihm die Hand gibt, so etwas wie ein Fels in der Brandung: Er kennt das Kind seit der Aufnahmesprechstunde, er hat die Eltern mehrfach besucht, er weiß um die Lebensumstände, Schwierigkeiten und Begabungen des Kindes. Das aber gibt ihm die Möglichkeit, allmählich ein Vertrauensverhältnis zu den Kindern zu entwickeln, und genau dieses Vertrauen öffnet die Seelen und schafft die Atmosphäre, in der die Kinder offen genug sind, ihre Schwächen zu zeigen, und mutig genug, sich etwas zuzutrauen.

In dieser Hinsicht hat es in der Interkulturellen Waldorfschule erfreuliche Erfahrungen gegeben; ein Beispiel sei etwas ausführlicher dargestellt. Ein türkisches Mädchen, E., wird für die erste Klasse angemeldet. Die Eltern informieren die Klassenlehrerin darüber, dass E. weder im Kindergarten noch in der Vorschule gesprochen habe, sie sei deswegen in therapeutischer Behandlung gewesen. Doch zu Hause spreche sie normal, sowohl türkisch als auch deutsch.

E. wird aufgenommen, und tatsächlich sagt sie lange Zeit kein Wort, weder zu der Lehrerin noch zu den Klassenkameraden, nicht im Unterricht, nicht in der Pause. Auch beim chorischen Sprechen im rhythmischen Teil, wo sich die schüchternen Kinder gern dazugesellen, spricht sie nicht, die Bewegungen allerdings macht sie verhalten mit. E. ist ein ganz verschlossenes Kind. Sie hat keine Freunde; auf dem Hof, in den Pausen steht sie allein, nimmt nicht am Seilhüpfen teil, tobt nicht und rennt nicht.

Nach den Weihnachtsferien beobachtet die Lehrerin, dass E. den Mund bewegt; aus dem Chor der Kinderstimmen kann sie allerdings nicht heraushören, ob E. auch tatsächlich laut spricht. Die Bewegungen des Mädchens werden mutiger, sie scheint langsam anzukommen. Ein paar Wochen später passiert Folgendes: Die Klasse unternimmt einen Ausflug. Alle sind bereit, nur E. nicht. Die Lehrerin ruft sie zweimal, und sie bemerkt, wie E. völlig verkrampft - wie so oft, wenn etwas von ihr verlangt wird. Daher geht die Lehrerin ruhig zu dem Mädchen hin, und in ihrer Verzweiflung spricht E., akzentfrei und verständlich, den Satz: «Ich kann meine Jacke nicht finden.» Man kann sich vorstellen, wie glücklich die Lehrerin ist, doch äußert sie sich nicht weiter dazu und lässt das Gesagte stehen.

Im Frühjahr kommt ein neues Mädchen in die Klasse, J., ein ruhiges, gemütvolles Kind; sie wird E.s Freundin. Im Spiel mit J. wird E. wacher, munterer und mutiger. Auch beobachtet die Lehrerin, wie die Mädchen auf dem Schulhof miteinander sprechen, geht aber nicht weiter darauf ein. Von nun an wird J. ein Sprachrohr für E.s Bedürfnisse. In schwierigen Lagen tritt sie für E. ein und bringt ihr Anliegen für sie vor. Als einmal bei einer solchen Gelegenheit beide Mädchen vor der Lehrerin stehen, sagt diese: «Halt, J.! Deine Freundin hat eine schöne Stimme und kann schön sprechen.» Hin und wieder kommt es nun vor, dass E. wie aus Versehen spricht, etwa beim Abzählen einer Reihe. Die Kinder zählen zügig durch, und als E. an der Reihe ist, sagt sie ihre Zahl, unauffällig und wie selbstverständlich. So vergeht das erste Schuljahr.

Im zweiten Schuljahr ereignet sich kurz nach Schulbeginn dieses: Die Lehrerin lässt die Kinder sagen, wer an diesem Tag fehlt. Einige Schülerinnen und Schüler melden sich, und plötzlich bemerkt sie, dass auch E. die Hand hebt - zum ersten Mal. Es gelingt der Lehrerin, ihre Erregung zurückzuhalten, und sie ruft zunächst ein anderes Kind auf, dann ein weiteres und schließlich - wie selbstverständlich - E. Und dann nennt das Mädchen den Namen des fehlenden Kindes, und die Lehrerin bedankt sich, wie immer. Aber einen kleinen Moment herrscht völlige Stille in der Klasse, und alle Köpfe haben sich dem Mädchen zugewendet.

In der zweiten Klasse ist es üblich, dass die Zeugnissprüche von den Kindern vorgetragen werden, die Lehrerin hilft zunächst dabei. Am Freitag ist E. an der Reihe, und sie stellt sich neben die anderen Kinder, die auch an einem Freitag geboren sind, vor die Klasse. Und dann spricht sie! Sie spricht ganz leise, den Blick auf ihre Lehrerin gerichtet, das eine oder andere Wort. Sobald die Lehrerin wegschaut, kommt nichts mehr. Die Klasse sitzt gebannt, mit dem Blick auf das Mädchen, auf ihren Stühlen. So gehen beide, Lehrerin und Schülerin, die eine vor-, die andere nachsprechend, durch den Spruch. Noch ist die Unsicherheit groß, doch der Bann ist gebrochen. Bald spricht E. immer mehr, auch mit manchen Fachlehrerinnen und Fachlehrern.

Ein derartiges Geschehen ist unter verschiedenen Aspekten bemerkenswert. Zunächst einmal wird deutlich, dass der Abbau einer solchen Sprachhemmung Zeit braucht - und das gilt für viele pädagogisch-therapeutische Prozesse. Ohne Geduld lassen sich Entwicklungen nicht erreichen. Dann ist interessant zu sehen, wie die Sprachfähigkeit sich aus der Bewegung heraus entfaltet; als die Bewegungen sicherer und mutiger werden, beginnt das Kind chorisch mitzusprechen. Vor allem aber zeigt sich, in welchem Maße das Überwinden seelischer Hemmnisse mit dem Geborgensein in einer Beziehung zusammenhängt. Mit der Freundschaft zu J. beginnt E. zu spielen, sich zu bewegen und mit ihr zu sprechen. Dann ist es die Klassenlehrerin, zu der sie Zutrauen gewinnt: Ihr vertraut sie sich an, als sie vor dem Ausflug ihre Jacke nicht findet; getragen von ihrem Blick übt sie, den Zeugnisspruch zu sprechen. Schließlich steht ihr die Klassengemeinschaft zurückhaltend-hilfreich zur Seite, indem sie die Fortschritte bemerkt, ohne großes Aufhebens darum zu machen. [...]

Die Universalität der Menschenkunde

Wer Kinder aus so verschiedenen Kulturzusammenhängen und sozialen Schichten, wie sie an der Interkulturellen Waldorfschule zusammentreffen und geschildert worden sind, gemeinsam erziehen will, muss sich Rechenschaft darüber ablegen, wo denn Anknüpfungspunkte für dieses Gemeinsame liegen. Gibt es etwas, das für alle Kinder in gleicher Weise gilt? Oder ist jedes Kind von seiner Kultur und seiner sozialen Herkunft so geprägt, dass es nur mit denen etwas gemeinsam hat, die unter gleichen Lebensverhältnissen aufgewachsen sind? Eine wirklich integrative Pädagogik wird nur möglich sein, wenn etwas Transkulturelles, Allgemeinmenschliches in jedem Kinde lebt. Dieses Universelle aber lässt sich entdecken, wenn man Kinder unterschiedlichster Herkunft in ihrem Heranwachsen beobachtet: Jedes Einzelne setzt sich individuell auseinander mit den Eindrücken, die aus der Welt auf es einströmen. Selbst bei eineiigen Zwillingen gibt es dieses Element des ganz Persönlichen: In der Reaktion auf Farbeindrücke, beim Nachahmen, beim Laufenlernen zeigen sich markante Unterschiede.2 Jedes Kind ist seinem innersten Wesen nach ganz individuell - gerade darin besteht das Universelle.

Es mag zunächst den Anschein haben, als sei damit das Dilemma, vor dem die Pädagogik steht, nur noch größer geworden. Wenn jedes Kind seine eigene Identität gleichsam «mitbringt», kann es dann überhaupt allgemeine Erziehungsprinzipien geben? Muss nicht mit jedem Kind Pädagogik völlig neu erfunden werden? Geht man dieser Frage nach, so zeigt sich, dass neben die eine Einsicht in den individuellen Charakter jedes Kindes eine zweite zu stellen ist: Es gibt - ungeachtet aller individueller Varianten - leibliche und auch seelische Entwicklungsvorgänge, die eine gesetzmäßige, allgemeine Signatur tragen: Von der Geburt bis zum Erwachsenenalter vollzieht sich ein durchgreifender Gestaltwandel mit einer Veränderung der Proportionen von Kopf, Rumpf und Gliedmaßen, das Kind arbeitet an der Bewegung des Aufrichtens bis hin zum Gehen- und Stehenlernen, die Sprache gestaltet sich aus von den ersten Lallmonologen bis hin zu strukturierten Satzbildungen, die kognitiven Fähigkeiten wachsen und differenzieren sich. Dabei ist es so, dass sich gerade die körperlichen Veränderungen, innerhalb gewisser Bandbreiten, in verschiedenen Kulturen gleichermaßen ereignen, sodass man hier von biologisch bedingten, universellen Reifungsprozessen sprechen kann.3 Allerdings liegt, auch bei so selbstverständlich anmutenden Vorgängen wie dem Aufrichten, kein einfacher Automatismus vor, vielmehr hat die Umgebung des Kindes einen erheblichen Einfluss auf die kindlichen Lernprozesse: Erfahrungen mit Kindern, die von Wölfen aufgezogen wurden, belegen, dass das Gehenlernen das menschliche Vorbild braucht.4 Was für das Aufrichten gilt, gilt selbstverständlich in noch stärkerem Maße für das Sprechenlernen und die gedankliche Entwicklung: Hier spielt der Faktor des umgebenden Milieus, der «Kultur», eine entscheidende Rolle. Überdies ist deutlich, dass die Kinder mit ihrer Aktivität in alle diese Prozesse hineinwirken, sodass wir in Bezug auf die kindliche Entwicklung von einem komplexen Ineinander von Reifung, Kultur und Individualität ausgehen können.5 Was ergibt sich daraus für eine interkulturelle Pädagogik?

In der neueren Diskussion ist die Notwendigkeit der Abkehr von einer paternalistischen «Sonder-Pädagogik», die auf einer defizitorientierten Fürsorgehaltung beruht, betont worden; wichtig sei vielmehr die Anerkennung und Stärkung der persönlichen Potenziale der Migrantenkinder im Sinne eines «Empowerment»Konzepts. Eine inhaltliche pädagogische Ausrichtung wird dabei in Annäherung an Prinzipien einer «subjektorientierten Bildungsdidaktik» gesucht, die darauf abzielt, im Heranwachsenden veranlagte, entwicklungspsychologisch jeweils aktuelle Kompetenzen herauszufordern und zu unterstützen.6

Eine solche Orientierung greift Tendenzen auf, die Anfang des 20. Jahrhunderts im Rahmen der Reformpädagogik als Pädagogik «vom Kinde aus» angestrebt worden sind7 und eine Grundlage der Waldorfpädagogik bilden: In konsequent altersspezifischer Ausrichtung wird bei den Entwicklungsbedürfnissen der Kinder und Jugendlichen angesetzt. Diese haben - unter Berücksichtigung aller individueller und kultureller Modifikationen - dennoch einen allgemeingültigen Charakter; […]

Exakt an diesem Punkt zeigt sich die Fruchtbarkeit anthroposophischer Menschenkunde für eine interkulturelle Pädagogik, differenziert sie doch zwischen Leib, Seele und Geist und bekommt somit sowohl die universellen körperlichen Entwicklungsprozesse als auch die von der jeweiligen Sprache und Kultur geprägten seelischen Verhältnisse sowie die Individualität, das «Ich» des Kindes, in den Blick. Auf dieser Grundlage konnte eine internationale Schulbewegung mit insgesamt über tausend Schulen auf allen Kontinenten entstehen, in denen Waldorfpädagogik in völlig unterschiedlichen kulturellen Kontexten praktiziert wird.

Die Universalität der allgemeinen Menschenkunde bei gleichzeitiger Anpassung an die jeweilige Kulturumgebung ist also nicht ein theoretisches Konstrukt, sondern Leitlinie konkreten pädagogischen Handelns, sie ermöglicht die Einheit der Waldorfschulbewegung bei gleichzeitiger kultureller Vielfalt - anders in England, Schweden oder den Niederlanden als in Japan, Peru oder Südafrika. [...]

Fremdsprachen: Englisch ab der ersten, Französisch ab der vierten Klasse

In der Interkulturellen Waldorfschule beginnt der Fremdsprachenunterricht in der ersten Klasse mit dem Englischen, ab der vierten Klasse kommt das Französische hinzu.[…]

Wie kommen speziell die Kinder mit Migrationshintergrund in diesem Unterricht zurecht? In der Literatur, die sich mit diesem Thema beschäftigt, wird oft darauf hingewiesen, dass Migrantenkinder aufgrund ihres eingeschränkten Wortschatzes in der Mutter- und Integrationssprache Probleme hätten, eine Fremdsprache gut zu lernen. An der Interkulturellen Waldorfschule allerdings bemerken die Fremdsprachenlehrer solche spezifischen Probleme, die gerade mit Migrantenkindern verbunden wären, nicht; auch gibt es keine Anzeichen für eine damit zusammenhängende Überforderung. Wenn auch eine Sprachlehrerin meint, speziell bei den türkischstämmigen Erstklässlern eine gewisse Hemmung festgestellt zu haben, sich auf das Englische einzulassen, beobachten andere insgesamt bei den Zuwandererkindern genau das Gegenteil, nämlich eine bemerkenswerte Offenheit und Leichtigkeit den Fremdsprachen gegenüber.

Die Englischlehrerin berichtet: «Ich habe das Gefühl, dass die türkischen Kinder die dritte Sprache Englisch leichter lernen als die deutschen Kinder Englisch als zweite Sprache. Ich denke schon: Wenn Kinder von früh an mehrere Sprachen lernen, dann sind sie für alle weiteren Sprachen offener. Das muss ja so sein. Migrantenkinder sind sehr lebendig im Sprachlichen. Es kommt natürlich auch auf das einzelne Kind an und aufs Temperament, aber sie haben schon eine große Flexibilität.»

Hier deutet sich etwas an, was insbesondere auch Jugendpädagogen zunehmend als eine besondere Stärke der zweisprachig aufgewachsenen Migrantenkinder erkennen: ihre Leichtigkeit im Erlernen fremder Sprachen, die vielleicht gerade dadurch gewonnen wird, dass sie mit keiner ihrer «Erstsprachen» wirklich sehr tief verbunden sind und sich damit eine gewisse «kindliche» Lockerheit im Umgang mit Sprachen bewahren konnten - eine Lockerheit, die im Übrigen durch einen sehr systematisch-intellektuellen Unterrichtsstil, der früh darum bemüht ist, «Fehler» zu identifizieren und zu verfolgen, schnell verspielt werden kann. Es ist außerdem sehr gut möglich, dass die negative Wirkung, die der eingeschränkte Wortschatz der Migrantenkinder auf ihre Fähigkeit zum Erlernen weiterer Fremdsprachen haben kann, durch die spezifische Methodik des frühen Fremdsprachenunterrichts in der Waldorfschule umgangen wird, indem ja nirgends „übersetzt“ wird und man also die fremde Sprache nicht auf der Grundlage der Muttersprache erlernt. Für die Kinder mit Migrationshintergrund erwachsen aus der Begegnung mit einer Fremdsprache schon ab der ersten Klasse offenbar keine spezifischen Probleme. Im Gegenteil scheint es eine sozial sehr verträgliche Seite zu haben, wenn hier nun erst einmal alle Kinder im Hinblick auf die fremde Sprache in gleicher Weise am Anfang stehen, die deutschsprachigen also keinen «mitgebrachten» Vorteil haben, sondern die neue Sprache für alle fremd ist. […]

Begegnungssprache

Neben der Förderung der deutschen Sprache - bei den Zuwandererkindern als wichtiger Schritt zur Integration, bei den deutschen Kindern als Pflege und oft notwendige Verbesserung ihrer Muttersprache - und dem frühen Erlernen des Englischen findet sich im Lehrplan der Interkulturellen Waldorfschule Mannheim noch eine dritte Form des Sprachunterrichts, nämlich die so genannte Begegnungssprache. […] Wenn «Begegnungssprache» auf dem Stundenplan steht - das ist ausschließlich bei den Klassen 1 bis 3 der Fall, und zwar gemeinsam und klassenübergreifend -, dann lösen sich die Klassen auf und gruppieren sich neu in mehrere kleine Lerngruppen. In jeder dieser neuen Lerngruppen wird für die Dauer des Unterrichts - insgesamt zwei Wochenstunden - im Wesentlichen die Sprache einer der an der Schule vertretenen Migrantengruppen gesprochen. Die Zuwandererkinder gehen in die Gruppe, in der ihre Muttersprache gesprochen wird, die deutschen Kinder und diejenigen „ausländischen Kinder“, deren Zahl so klein ist, dass keine eigene muttersprachliche Gruppe angeboten werden kann, ordnen sich einer dieser Gruppen zu. Der Unterricht wird von einem muttersprachlichen Lehrer erteilt. Im Schuljahr 2006/2007 wurden die «Begegnungssprachen» Türkisch, Polnisch, Serbokroatisch, Russisch und Spanisch unterrichtet.[…]

Wenn auch im begegnungssprachlichen Unterricht vorwiegend die Muttersprache der jeweiligen Migrantengruppe gesprochen wird, so handelt es sich nicht eigentlich um einen Sprachunterricht im herkömmlichen Sinn. Eher kann man schon von einer Einführung und Pflege der (Alltags-)Kultur sprechen, von der die jeweilige Begegnungssprache ein Teil ist. Der „Stoff“ dieses Unterrichts besteht nämlich aus wichtigen Elementen dieser Alltagskultur: aus Liedern, Festen, typischen Nahrungsmitteln oder Speisen, aus der Art, wie in der fremden Kultur mit den Jahreszeiten umgegangen wird, dem Kennenlernen fremder Musikinstrumente, Märchen, Geschichten, Alltagsgewohnheiten usw. Die (muttersprachlichen) Lehrkräfte müssen ihre eigene Kultur daher sehr gut kennen. […]

In den Kindern wird hier von klein auf eine Haltung angelegt, die eigene kulturelle Prägung ernst zu nehmen, zu ihr zu stehen und sie zu lieben, sie aber nicht als universelle Norm zu betrachten, die wie ein Naturgesetz für alle Menschen gilt. Fremdes zu achten heißt keineswegs, das Eigene in Frage zu stellen. Im Gegenteil gilt für die deutschsprachigen ebenso wie für die Migrantenkinder: Die liebe- und verständnisvolle Begegnung mit dem jeweils Fremden stärkt und festigt das Gefühl der Zugehörigkeit, auch des Stolzes auf die eigenen kulturellen Wurzeln, und wirkt so auch der Entfremdung von der eigenen Herkunft entgegen.

Wie kann es nach der dritten Klasse weitergehen?

Gerade für die Migrantenkinder wird mit dem begegnungssprachlichen Unterricht ein Fundament gelegt, auf dem dann ab der vierten Klasse für sie ein muttersprachlicher Unterricht einsetzen könnte - und eigentlich unbedingt einsetzen müsste, denn hier liegt eines der großen ungelösten Probleme aller interkulturellen Pädagogik. Zweifellos müssen die Zuwandererkinder Deutsch so gut wie möglich lernen, wenn sie in der deutschen Gesellschaft eine Heimat und Erfolg haben wollen. Das heißt heute aber meistens zugleich: Damit entwickelt sich ihr muttersprachliches Vermögen nicht über das in der Familie oft informelle, diffuse und introvertierte Niveau hinaus, oft erlangen sie gar nicht die Stufe der Schriftlichkeit und versäumen die Ausbildung der Schriftsprache. So verlieren sie aber die Möglichkeit, sich die Traditionen, Auseinandersetzungen und Werke ihrer eigenen Hochkultur zu erschließen. Sie bleiben in dieser Hinsicht Kinder - und abhängig von jenen Bauernfängern ihres eigenen Kulturkreises, die diese partielle Unmündigkeit und Abhängigkeit ausnutzen und damit, etwa in religiösen Fragen, ein Deutungsmonopol erlangen, dem die Migranten der zweiten Generation selbst nichts entgegenzusetzen haben.

Die Lehrerstimmen zu dieser Problematik: «Wir müssen auch die Linie weiter verfolgen. Denn das ist ebenfalls interessant. Die Kinder sollen ihre Muttersprache nicht vergessen. Ich kenne viele Kinder, die sprechen russisch wie ausländische Kinder, mit Fehlern ... wie ich deutsch spreche!» - «Begegnungssprache, das ist eine sehr gute Möglichkeit für uns gewesen. Aber ich würde trotzdem eine Muttersprache für sich unterrichten, denn das ist die Grundlage für das Erlernen der anderen Sprachen. Es muss so sein, dass das Kind seine Muttersprache hören und sprechen kann und etwas darüber lernt. Es muss von dem Land, von der Kultur, von der jeweiligen Grammatik und Rechtschreibung etwas lernen.» - «Es gibt auch Forschungen darüber, dass der Jugendliche einer anderen Nation, ungefähr ab sechzehn, selber nach seinen Wurzeln, nach seinen Quellen forschen will. Und da müsste er eben seine Muttersprache lesen und schreiben können.» [...]

Waldorfschule und Migrantenkinder: eine offene Aufgabe

[...] Die Erfahrungen an der Interkulturellen Waldorfschule haben gezeigt, dass die Grundansätze der Waldorfpädagogik ein geeignetes Instrument für eine solche sozial-integrative, interkulturelle Erziehungsaufgabe sind. Diese Pädagogik ist weder sozial noch kulturell einseitig oder beschränkt, sie schreckt Unterschicht- und Migrantenkinder nicht ab und schließt sie nicht aus, sondern erweist sich im Gegenteil als tragfähige Brücke zu ihrer Förderung. Denn sie ist in ihrem Kern transkulturell und allgemein-menschlich und kann daher in den unterschiedlichsten Kulturen und sozialen Lagen neu erfunden werden, ohne sich selbst zu verlieren. Allerdings gilt es, Bedingungen zu schaffen, die es auch Eltern aus schwächeren sozialen Schichten ermöglichen, ihre Kinder auf eine solche Schule zu schicken. Im Falle der Mannheimer Initiative ist es inzwischen gelungen, neben den Zuschüssen vom Land und einer Unterstützung von der Stadt für eine Übergangszeit Hilfe von Stiftungen zu bekommen. Es wird im Blick auf die nächsten Jahre notwendig sein, durch Spenden und Patenschaften die Finanzierung auf eine breitere Basis zu stellen.

Anhang

1 Vgl. Daten der Statistikstelle und des Polizeipräsidiums der Stadt Mannheim
2 Vgl. dazu C. Rittelmeyer, Pädagogische Anthropologie des Leibes, Weinheim und München 2002, S. 152-170
3 Vgl. J. Kagan, Die Natur des Kindes, München 1987
4 J. A. L. Singh, Die «Wolfskinder» von Midnapore, Heidelberg 1964
5 Vgl. dazu R. N. Lerner, T. T. Foch (Hrsg.), Biological- Psychological Interaction in early Adolescence: A life - spam perspective, Sussex 1987
6 Vgl. M. A. Meyer, Bildungsdidaktik. Denkanstöße für pädagogische Forschungen und schulische Praxis, Opladen 1988
7 Vgl. F. Blättner, Geschichte der Pädagogik, Heidelberg 1980, Buch 15, S. 281 ff.


Auszug aus Schule ist bunt - Eine interkulturelle Waldorfschule im sozialen Brennpunkt

Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von Albert Schmelzer