Die Funktion des Richters in der Dreigliederung

01.12.2011

1. Die rechtliche Grundlage der Richterwahl heute

Gemäss den Bestimmungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte werden in der Schweiz die Richter folgendermassen gewählt:

«Die Richter werden von der Parlamentarischen Versammlung für jede Hohe Vertragspartei mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen aus einer Liste von drei Kandidaten gewählt, die von der Hohen Vertragspartei vorgeschlagen werden.» (Bundesrecht, Artikel 22)

Heute wird die Richterwahl somit von der Politik abgesegnet. Das Parlament wählt einen von drei vorgeschlagenen Kandidaten aus. Politikern wird also die Kompetenz zugetraut, die notwendigen Fähigkeiten von Richtern zu beurteilen. Sie entscheiden für sämtliche Bürger, wer sie in Rechtsfällen beurteilen soll. Dass dabei kulturelle Minderheiten untervertreten sein könnten wird bloss dadurch berücksichtigt, dass Diskriminierungen verboten werden:

«Der Genuss der in dieser Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten ist ohne Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu gewährleisten.» (Bundesrecht, Artikel 14)

Einen anderen Weg wollte Geert Mackenroth am 64. Deutschen Juristentag 2002 einschlagen. Seiner Meinung nach sollte die Richterwahl entpolitisiert werden. Ein eigenständiger Justizverwaltungsrat sollte die Personalentscheidungen in die Hand nehmen. Der Anstoss stiess jedoch auf taube Ohren. Es fehlte den Richtern der Mut, einen «Schatten-Justizverwaltungsrat» zu schaffen, der den Bürgern vorzeigt, was ein Gericht zu leisten im Stande sein könnte. (Mehr dazu von Sylvain Coiplet: Richter streiten über den Einfluß der Politik über die Richterwahl)

2. Die Funktion des Richters in der Dreigliederung

Auch wenn das Bewusstsein davon sehr unterschiedlich ist, zeichnet sich der neuzeitliche Mensch durch den Individualismus aus. Er fühlt und versteht sich als Einzelwesen und will auch in dem Sinn handeln. Diese Selbstständigkeit gilt es zu beachten, wenn über zeitgenössische gesellschaftliche Fragen diskutiert wird. Nur eine Auseinandersetzung, welche mit dieser Tatsache rechnet, kann den Individualismus an der rechten Stelle fördern und da kurieren, wo er verantwortungslos und schädlich wird. In besonderem Masse gilt es den Einzelmenschen in seinem Selbstverständnis in seinem Verhältnis zum öffentlichen Amt des Richters zu beachten.

Gesetze sind notwendig und müssen für alle die gleiche Gültigkeit haben. Die Einforderung einer beschlossenen Strafe darf ebensowenig Ausnahmen für Einzelne aufweisen. Unmenschlich wäre es jedoch, wenn Gesetze ohne Rücksicht auf die konkreten Umstände eingefordert würden. Ist es beispielsweise nicht anders zu beurteilen, ob ein 15jähriger in eine fragwürdige Peergruppe abrutscht und dabei beim Sprayen erwischt wird, oder ob ein 40jähriger einen Farbanschlag auf die Fassade eines verhassten Nachbars ausübt? Dies stellt der psychologische Faktor der Rechtssprechung dar.
Die Wahl der geeigneten Menschen für diese Aufgaben muss nach anderen Massstäben geschehen als beim Einsetzen von Politikern. Der Richter muss den zu Richtenden als Einzelperson sachgerecht beurteilen können. Er muss über psychologische Fähigkeiten verfügen, welche ein Politiker nicht benötigt.
Der Einzelfall ist nicht verallgemeinerbar. Es ist nicht der Gesetzschreibung anzulasten, dass sie nicht genug ausgereift ist, wenn sie nicht jeden Einzelfall abdeckt. Der Einzelfall zeichnet sich gerade dadurch aus, dass er nie vollständig in die Allgemeinheit einer rechtlichen Form überführt werden kann. Es kann nicht darum gehen ein Gesetz zu schaffen, welches jeden Einzelfall abdeckt, sondern eine zusätzliche Instanz, welche das Gesetz auf das Einzelne bezieht.
Die Wahl des zuständigen Richters kann nicht demokratisch vollzogen werden, weil sie dadurch dem Auftrag gegenüber dem Einzelnen nicht gerecht werden könnte. Die Meinung der Einzelnen kann nicht von einer Mehrheit überstimmt werden, weil sie hier nicht «falsch» sein kann. Bei der Einführung eines neuen Gesetzes muss man sich im Resultat der Mehrheit beugen. Die Amtszeit eines Richters wird von Steiner auf 5 bis 10 Jahre vorgeschlagen.

Die individuelle Wahl des Richters hat insbesondere bei Immigranten eine grosse Bedeutung. Ein Einwanderer hat unter Umständen einen sehr unterschiedlichen kulturellen Hintergrund. Ein Vergehen gegen ein Gesetz muss daher anders beurteilt werden, als bei einem Einheimischen. Die Kenntnisse und das Einhalten der Gesetze muss von jedem gleichermassen gefordert werden. Bei der Beurteilung einer konkreten Schuld kulturelle Unterschiede nicht zu beachten, zeugt aber von einer nicht tolerierbaren Ignoranz. Steiner weiss von verschiedenen Fällen zu berichten, bei denen Konflikte zwischen Nationen geschürt wurde durch staatliche Gerichte.

«Vergessen Sie nicht, dass in einem solchen Staate wie Österreich - auf anderen Gebieten würde sich das nicht in so radikaler Weise charakterisieren lassen, aber vorhanden ist es in dieser oder jener Form auch -, besonders weil in Österreich durcheinandergeschoben sind die verschiedenen Sprachgebiete, Sie es zum Beispiel erleben konnten, dass ein Deutscher, weil er gerade zufällig in irgendeinen Gerichtssprengel hineingehörte, in dem ein tschechischer Richter amtierte, der nicht Deutsch konnte, dass er abgeurteilt wurde von einem tschechischen Richter in einer Sprache, die er nicht verstand. Er wusste nicht, was über ihn geurteilt wurde und was geschah mit ihm; er merkte nur, dass man ihn abführte. Ebenso war es umgekehrt der Fall, wenn ein deutscher Richter, der nicht Tschechisch verstand, einen Tschechen aburteilte, der kein Deutsch verstand. Was ich meine, ist die individuelle Gestaltung, die freie Gestaltung des Verhältnisses des zu Verurteilenden zum Richter.» (R. Steiner, Das soziale Wollen als Grundlage einer neuen Wissenschaftsordnung, in: Die soziale Frage, Dornach 1977, S. 135.)

Das Problem der Sprache gilt auch für das Verständnis von weiteren kulturellen Prägungen. Dies erläutert Steiner auch am Fall Oberschlesiens.

«Hier kämpfen zwei Kulturen, zwei Volksindividualitäten, die einander durchdringen, um die Möglichkeit, sich auszuleben. Schulwesen und richterliche Rechtsprechung sind die wichtigsten Punkte, die zu Reibungen Anlass geben. Nur durch die Befreiung des Geisteslebens können gerade in Oberschlesien diese brennenden Fragen gelöst werden. Nebeneinander werden sich dann die zwei Kulturen, die deutsche und die polnische, entsprechend ihren Lebenskräften entwickeln können, ohne dass die eine eine Vergewaltigung durch die andere zu befürchten hat, und ohne dass der politische Staat für die eine oder andere Partei ergreift. Nicht nur eigene Bildungsanstalten, sondern eigene Verwaltungskörperschaften für das Kulturleben wird jede Nationalität errichten, so dass Reibungen ausgeschlossen sind.» (R. Steiner, Aufruf zur Rettung Oberschlesiens, in: Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus, Dornach 1961, S. 465f..)

Die gesellschaftliche Notwendigkeit, aus der heraus die freie Richterwahl gefordert wird, wird am Beispiel von Oberschlesien erkennbar. Konflikte, die aus kulturellen Unterschieden entstehen, sollen daher durch die Selbstbestimmung jedes Einzelnen im Geistesleben grundsätzlich angegangen werden. Nationalistischen Kräften wird darüber hinaus der Boden entzogen, wie folgendes Zitat thematisiert.

«(...) doch trägt es die Möglichkeit in sich, auf friedlichem Wege die nationalen Gegensätze - auch andere - auszugleichen. Es trägt sogar die Möglichkeit in sich, etwas Wirkliches zu schaffen an Stelle des schattenhaften StaatenSchiedsgerichts. Nationalen oder anderweitigen Agitatoren werden dadurch ihre Kräfte ganz genommen. Kein Italiener in Triest fände Anhänger in dieser Stadt, wenn jedermann seine nationalen Kräfte in ihr entfalten könnte, trotzdem aus selbstverständlichen opportunistischen Gründen seine wirtschaftlichen Interessen in Wien geordnet werden, und trotzdem sein Gendarm von Wien aus bezahlt wird.» (R. Steiner, Die Memoranden vom Juli 1917, Werke, in: Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus, Dornach 1961, S. 343f..)

Die freie Wahl der Richter führt nicht gezwungenermassen zu einer Selbstjustiz, in der sich der Richter per se auf die Seite seines Mandanten stellt. Ein solches Verhalten ist selbstverständlich illegal und muss sanktioniert werden. Die Gefahr der Ausnutzung des Richteramts ändert nichts an der Tatsache, dass die Beurteilung der Schuld eines Einzelnen heute durch individuell gewählte Personen vollzogen werden muss. Dem Missbrauch wirkt auch die Offenlegung der Urteilsbeschlüsse entgegen. Jeder kann die Begründungen für das Urteil eines Richters einsehen und gegebenen Falls rechtlich dagegen vorgehen.

Die Mitarbeiter eines Richters werden folgendermassen bestimmt:

«Für die engere Gesetzeskenntnis werden den in der geschilderten Art bestellten Richtern und Gerichtshöfen Beamte zur Seite stehen, deren Wahl auch von der Verwaltung des geistigen Organismus zu vollziehen ist, die aber nicht selbst zu richten haben. Ebenso werden Appellationsgerichte aus dieser Verwaltung heraus zu bilden sein. Es wird im Wesen desjenigen Lebens liegen, das sich durch die Verwirklichung solcher Voraussetzungen abspielt, dass ein Richter den Lebensgewohnheiten und der Empfindungsart der zu Richtenden nahestehen kann, dass er durch sein außerhalb des Richteramtes – dem er nur eine Zeitlang vorstehen wird – liegendes Leben mit den Lebenskreisen der zu Richtenden vertraut wird. Wie der gesunde soziale Organismus überall in seinen Einrichtungen das soziale Verständnis der an seinem Leben beteiligten Personen heranziehen wird, so auch bei der richterlichen Tätigkeit. Die Urteilsvollstreckung fällt dem Rechtsstaate zu.» (R. Steiner, Die Kernpunkte der sozialen Frage, Dornach 1976, S. 139f..)

3. Eine konkrete Initiative. Die freie Schiedsstelle der GLS Treuhand

Wenn auch nicht in Form eines Schatten-Justizverwaltungsrats, wie ihn Mackenroth vorschlägt, werden in Bochum doch erste Schritte in diese Richtung vorgemacht. Die Rechtsanwälte Katharina Höyng, Matthias Höyng, Axel Janitzki, Ingo Krampen und Sandra Meinke bieten aussergerichtliche Hilfe in Streitfällen an. Die freie Schiedsstelle nimmt sich zivilrechtlicher Verfahren an. Dabei handelt es sich um die Rechtsangelegenheiten, welche ohne staatlichen Einfluss geregelt werden können. Beispiele für zivilrechtliche Fälle sind vertragsrechtliche Belange oder finanzielle Forderung, wie Schadensersatzforderungen. Nicht behandelt werden Staatsangelegenheiten. Dazu gehören Strafsachen, staatliche Beurkundungen und die Fachgerichtsbarkeiten. Die Schiedsstelle ist in der Zivilprozessordnung verankert und damit öffentlich anerkannt. Die Urteile sind rechtskräftig.

Vorteile liegen in erster Linie darin, dass die Rechtsfälle von individuell gewählten Richtern beurteilt werden. Sie fällen nicht nur Richtsprüche, sondern bieten, bevor dies nötig wird, Konfliktberatung, Mediation und Schlichtung an. Die Schiedstelle kostet etwas. Umgangen werden können Wartezeiten, welche bei öffentlichen Institutionen durch deren häufige Überlastung anfallen.

Trotz den freiheitlichen Hintergründen der Schiedsstelle liegt ihre Schwäche darin, dass sie in den «Wellnessbereich» der Rechtssprechung abschweifen droht. Im Bereich der Beratung und Vermittlung zwischen zwei Parteien kann die Schiedsstelle durchaus mehr leisten, als ein öffentliches Gericht. Wirklich tragfähig wird eine freie Rechtsprechung aber erst, wenn sie dem Staat sämtliche Rechtsfälle entzieht. Eben auch diejenigen, welche an die Substanz gehen Strafsachen oder die Fachgerichtsbarkeiten.

Nähere Angaben zur Schiedsstelle in Bochum finden sich hier

4. Ausführliche und zusätzliche Textstellen von Steiner zum Thema Richter

(R. Steiner, Die Memoranden vom Juli 1917, Werke, in: Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus, Dornach 1961, S. 343f..)

Alle juristischen, pädagogischen und geistigen Angelegenheiten werden in die Freiheit der Personen gegeben. Auf diesem Gebiete hat der Staat nur das Polizeirecht, nicht die Initiative. Es ist, was hier gemeint ist, nur scheinbar radikal. In Wirklichkeit kann sich nur derjenige an dem hier gemeinten stoßen, der den Tatsachen nicht unbefangen ins Auge sehen will. Der Staat überlässt es den sach-, berufs- und völkermässigen Korporationen, ihre Gerichte, ihre Schulen, ihre Kirchen und so weiter zu errichten, und er überlässt es dem einzelnen, sich seine Schule, seine Kirche, seinen Richter zu bestimmen. Natürlich nicht etwa von Fall zu Fall, sondern auf eine gewisse Zeit. Im Anfange wird dies wohl durch die territorialen Grenzen beschränkt werden müssen, doch trägt es die Möglichkeit in sich, auf friedlichem Wege die nationalen Gegensätze – auch andere – auszugleichen. Es trägt sogar die Möglichkeit in sich, etwas Wirkliches zu schaffen an Stelle des schattenhaften StaatenSchiedsgerichts. Nationalen oder anderweitigen Agitatoren werden dadurch ihre Kräfte ganz genommen. Kein Italiener in Triest fände Anhänger in dieser Stadt, wenn jedermann seine nationalen Kräfte in ihr entfalten könnte, trotzdem aus selbstverständlichen opportunistischen Gründen seine wirtschaftlichen Interessen in Wien geordnet werden, und trotzdem sein Gendarm von Wien aus bezahlt wird.

(R. Steiner, Das soziale Wollen als Grundlage einer neuen Wissenschaftsordnung, in: Die soziale Frage, Dornach 1977, S. 135.)

Nicht wahr, in dieser Frage berühren sich ja selbstverständlich das System des öffentlichen Rechts mit dem System der praktischen Gerichtsbarkeit. Was ich betont habe, ist die Trennung des praktischen Richtens. Deshalb habe ich den Ausdruck «Richten» gebraucht, ausdrücklich des praktischen Richtens von dem allgemeinen öffentlichen Rechtsleben, das ich bei dem gesunden sozialen Organismus im politischen Staat zentralisiert so denken mus, dass der gesunde soziale Organismus in seinem öffentlichen Rechtsleben dafür sorgen muss, dass entsprechend nach einem von ihm bestimmten Gesetze verfahren werden muss. Dass nicht in der willkürlichsten Weise gerichtet werden kann, das ist ganz selbstverständlich. Aber ich habe nicht an solche Dinge gedacht, die abstrakt sind und die in ihrer Abstraktheit mehr oder weniger selbstverständlich sind. Ich habe auch heute nicht über, sagen wir, den Wirkungsbereich des Rechtes zu sprechen gehabt, sondern ich habe über den sozialen Organismus und über soziales Wollen zu sprechen gehabt. Und da bitte ich Sie, im Sinne des Themas das Folgende zu bedenken.
Vergessen Sie nicht, dass in einem solchen Staate wie Österreich – auf anderen Gebieten würde sich das nicht in so radikaler Weise charakterisieren lassen, aber vorhanden ist es in dieser oder jener Form auch –, besonders weil in Österreich durcheinandergeschoben sind die verschiedenen Sprachgebiete, Sie es zum Beispiel erleben konnten, dass ein Deutscher, weil er gerade zufällig in irgendeinen Gerichtssprengel hineingehörte, in dem ein tschechischer Richter amtierte, der nicht Deutsch konnte, dass er abgeurteilt wurde von einem tschechischen Richter in einer Sprache, die er nicht verstand. Er wusste nicht, was über ihn geurteilt wurde und was geschah mit ihm; er merkte nur, dass man ihn abführte. Ebenso war es umgekehrt der Fall, wenn ein deutscher Richter, der nicht Tschechisch verstand, einen Tschechen aburteilte, der kein Deutsch verstand. Was ich meine, ist die individuelle Gestaltung, die freie Gestaltung des Verhältnisses des zu Verurteilenden zum Richter. Also ein solcher Staat wie Österreich hätte hiervon einen großen Erfolg zu erwarten. Aber dieser Impuls hätte erfordert, dass immer, für vielleicht fünf oder zehn Jahre – die Verhältnisse verschieben sich fortwährend –, jedenfalls von dem zu Verurteilenden oder zu Richtenden sein Richter hätte gewählt werden können, in freier Wahl des Richters.
(...)
Das ist einfach ein Gegenstand gar nicht des geistigen Lebens, sondern es ist von vornherein ein Gegenstand des Lebens im Rechtsstaat; dafür, dass also nur nach einem Gesetze gerichtet wird, welches bestanden hat, als die Tat begangen worden ist, wird das zweite, das staatliche Gesetz, als zu seiner Kompetenz rechnend, schon sorgen; es wird schon für jeden Fall seine Konsequenzen ziehen, selbstverständlich.

(R. Steiner, Entwicklungsgeschichtliche Unterlagen zur Bildung eines sozialen Urteils, Dornach 1963, S. 214.)

Und das geistige Leben einschließlich der Jurisprudenz ist nur dann auf gesunder Basis aufgebaut, wenn der einzelne vollständig frei ist. Er muss frei sein in Bezug auf alles andere. Er muss auch, meinetwillen von fünf zu fünf, von zehn zu zehn Jahren seinen Richter bestellen können, der sowohl sein Privat-, wie sein Strafrichter ist. Ohne das geht es nicht, ohne das kommen Sie zu keiner entsprechenden Struktur.
Diese nationalen Fragen hätten ohne territoriale Verschiebungen gelöst werden können! Das sagt Ihnen ein Mann, der studiert hat an den schwierigen österreichischen Verhältnissen, wo dreizehn verschiedene Amtssprachen oder wenigstens Gebrauchssprachen sind im amtlichen Verkehre, und der studieren konnte an diesen österreichischen Verhältnissen, was gerade auf dem Gebiete der Jurisprudenz nötig ist. Nehmen Sie an, es stoßen an irgendeiner Grenze zwei Länder zusammen, meinetwillen seien sie getrennt durch Nationalität oder durch etwas anderes.
Hier ist ein Gericht und hier ist ein Gericht, da ist die Grenze hinüber. Der Mann hier bestimmt sich: Ich werde in den nächsten zehn Jahren von diesem Gerichte abgeurteilt -, der andere bestimmt sich: Ich werde von diesem Gerichte abgeurteilt.

(R. Steiner, Gesammelte Aufsätze zur Kultur- und Zeitgeschichte 1887 – 1901, Dornach 1966, S. 280f..)

Dreyfus fixe Ideen sind aber solche, die ein glaubwürdiger Beweis seiner Unschuld sind. Niemand, der mit psychologischem Blick diese Briefe liest, kann noch an die geringste Schuld dieses Mannes glauben. Als ein mit monumentalen Worten sprechendes Zeugnis sollten diese Briefe gelesen werden, daß heute in der Republik Frankreich das Recht der Persönlichkeit, daß die Freiheit zerstampft werden kann, daß der Mensch rechtlos sein kann in einem Staate, der sein Dasein auf sogenannte Freiheitsrechte stützt.
Gäbe es Richter, könnte es bei den gegenwärtigen Staatsverhältnissen solche geben, welche nicht nach dem Buchstaben der Gesetze Urteile fällen, die den Tatsachen gegenüber wie Hohn sich ausnehmen, so bedurfte es nur dieser Briefe, um Dreyfus aus seiner Verbannung zu holen, ihn von aller Schuld freizusprechen und ihm zu gewähren, was er verlangt und wessen er noch fähig ist. Aber die Richter können keine Psychologen sein. Stärker für sie als der Beweis, den die Briefe für die Unschuld liefern, spricht der Umstand, ob es irgendwo einen vieldeutigen Paragraphen gibt, der spitzfindig zu Gunsten oder Ungunsten des Verurteilten ausgelegt werden kann.

(R. Steiner, Aufruf zur Rettung Oberschlesiens, in: Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus, Dornach 1961, S. 465f..)

Bevor nicht in ganz Europa eine solche gesunde Dreigliederung des sozialen Organismus in den verschiedenen Staatsgebieten durchgeführt ist, kann auch die oberschlesische Frage nicht wirklichkeitsgemäß einer endgültigen Lösung zugeführt werden. Gerade in Oberschlesien schreien die Verhältnisse ganz besonders nach einer solchen Dreigliederung.
Hier kämpfen zwei Kulturen, zwei Volksindividualitäten, die einander durchdringen, um die Möglichkeit, sich auszuleben. Schulwesen und richterliche Rechtsprechung sind die wichtigsten Punkte, die zu Reibungen Anlass geben. Nur durch die Befreiung des Geisteslebens können gerade in Oberschlesien diese brennenden Fragen gelöst werden. Nebeneinander werden sich dann die zwei Kulturen, die deutsche und die polnische, entsprechend ihren Lebenskräften entwickeln können, ohne dass die eine eine Vergewaltigung durch die andere zu befürchten hat, und ohne dass der politische Staat für die eine oder andere Partei ergreift. Nicht nur eigene Bildungsanstalten, sondern eigene Verwaltungskörperschaften für das Kulturleben wird jede Nationalität errichten, so dass Reibungen ausgeschlossen sind. - Und würde auch der Wirtschaftskreislauf in Oberschlesien vom Staatlich-Politischen losgelöst, so ließen sich die oberschlesischen Wirtschaftsfragen in die europäische Gesamtwirtschaft eingliedern und nur durch Abkommen zwischen den Wirtschaftsleuten der beteiligten Länder lösen.

(R. Steiner, Die Kernpunkte der sozialen Frage, Dornach 1976, S. 139f..)

Eine derjenigen Wirkungen, durch welche die Dreigliederung des sozialen Organismus ihre Begründung im Wesenhaften des menschlichen Gesellschaftslebens zu erweisen haben wird, ist die Loslösung der richterlichen Tätigkeit von den staatlichen Einrichtungen. Den letzteren wird es obliegen, die Rechte festzulegen, welche zwischen Menschen oder Menschengruppen zu bestehen haben. Die Urteilsfindungen selbst aber liegen in Einrichtungen, die aus der geistigen Organisation heraus gebildet sind. Diese Urteilsfindung ist in hohem Maße abhängig von der Möglichkeit, dass der Richtende Sinn und Verständnis habe für die individuelle Lage eines zu Richtenden. Solcher Sinn und solches Verständnis werden nur vorhanden sein, wenn dieselben Vertrauensbande, durch welche die Menschen zu den Einrichtungen der geistigen Organisation sich hingezogen fühlen, auch maßgebend sind für die Einsetzung der Gerichte. Es ist möglich, dass die Verwaltung der geistigen Organisation die Richter aufstellt, die aus den verschiedensten geistigen Berufsklassen heraus genommen sein können, und die auch nach Ablauf einer gewissen Zeit wieder in ihre eigenen Berufe zurückkehren. In gewissen Grenzen hat dann jeder Mensch die Möglichkeit, sich die Persönlichkeit unter den Aufgestellten für fünf oder zehn Jahre zu wählen, zu der er so viel Vertrauen hat, dass er in dieser Zeit, wenn es dazu kommt, von ihr die Entscheidung in einem privaten oder strafrechtlichen Fall entgegennehmen will. Im Umkreis des Wohnortes jedes Menschen werden dann immer so viele Richtende sein, dass diese Wahl eine Bedeutung haben wird. Ein Kläger hat sich dann stets an den für einen Angeklagten zuständigen Richter zu wenden. – Man bedenke, was eine solche Einrichtung in den österreichisch-ungarischen Gegenden für eine einschneidende Bedeutung gehabt hätte. In gemischtsprachigen Gegenden hätte der Angehörige einer jeden Nationalität sich einen Richter seines Volkes erwählen können. Wer die österreichischen Verhältnisse kennt, der kann auch wissen, wieviel zum Ausgleich im Leben der Nationalitäten eine solche Einrichtung hätte beitragen können. – Aber außer der Nationalität gibt es weite Lebensgebiete, für deren gesunde Entfaltung eine solche Einrichtung im gedeihlichen Sinne wirken kann. - Für die engere Gesetzeskenntnis werden den in der geschilderten Art bestellten Richtern und Gerichtshöfen Beamte zur Seite stehen, deren Wahl auch von der Verwaltung des geistigen Organismus zu vollziehen ist, die aber nicht selbst zu richten haben. Ebenso werden Appellationsgerichte aus dieser Verwaltung heraus zu bilden sein. Es wird im Wesen desjenigen Lebens liegen, das sich durch die Verwirklichung solcher Voraussetzungen abspielt, dass ein Richter den Lebensgewohnheiten und der Empfindungsart der zu Richtenden nahestehen kann, dass er durch sein außerhalb des Richteramtes – dem er nur eine Zeitlang vorstehen wird – liegendes Leben mit den Lebenskreisen der zu Richtenden vertraut wird. Wie der gesunde soziale Organismus überall in seinen Einrichtungen das soziale Verständnis der an seinem Leben beteiligten Personen heranziehen wird, so auch bei der richterlichen Tätigkeit. Die Urteilsvollstreckung fällt dem Rechtsstaate zu.