Elternlobby und freie Schulwahl

01.06.2012

Zur Initiative für eine freie Schulwahl, vorgestellt in der Agorá 4/2012

In der letzten Ausgabe von Agorá (Nr. 4) beschreibt Iris-Astrid Kern wie unsere Zivilisation auf Irrtümern aufbaut, wie unsere Wirklichkeit im 20. Jahrhundert zu einem Scheingebilde wurde, deren Gedanken als Vorstellungen an den Köpfen der Menschen abprallen und zu Handlungen werden, ohne dass sie vorher den Menschen als Ganzes durchdrungen und sich sein reales Wesen einverleibt hätten.

Der „Zufall“ will es, dass zu diesen Ausführungen ein anschauliches Beispiel auf der gegenüberliegenden Seite geboten wird, in der Form der vorgestellten Initiative „für eine freie Schulwahl“ im Kanton Zürich.

Diese Forderung nach „freier Schulwahl“, nach „Freiheit im Bildungswesen“ trifft sich im Prinzip mit der anthroposophischen Forderung nach einem freien Geistesleben, daher wird sie auch in einem solchen Zusammenhang dargestellt und propagiert, und erhält von dieser Seite auch Unterstützung. Ist dies aber auch berechtigt?

Die Wahl des Namens „für eine freie Schulwahl“ impliziert, dass es keine freie Schulwahl gibt, dass ein solche unmöglich ist. Wahr ist aber, dass in allen Kantonen während der obligatorischen Schulzeit die Wahl zwischen staatlicher und anerkannter privater Schule frei ist. In vielen Fällen kann sogar privat zu Hause unterrichtet werden. Eine Einschränkung gibt es nur bei der Wahl des Standortes der staatlichen Schule, welche im Regelfall auf den Wohnort beschränkt ist. Aber auch betreffend Methode herrscht heute für alle Privatschulen Methodenfreiheit. Schon aus diesen Gründen ist also die Bezeichnung der Initiative irreführend, und es werden über das Thema falsche Vorstellungen erzeugt.

Die tatsächliche Motivation für die Initiative ist demgegenüber eine andere: Die staatlichen Schulen werden mit Steuergeldern finanziert, weshalb der Besuch dieser Schulen gebührenfrei ist. Demgegenüber erhalten die staatlich anerkannten privaten Schulen in den allermeisten Fällen keine oder im Vergleich mit den staatlichen Schulen nur wenig staatliche finanzielle Unterstützung. Deshalb ist die Wahl einer solchen Schule mit zusätzlichem finanziellem Aufwand verbunden. Dies ist kein Verbot der freien Schulwahl, sondern eine Ungleichbehandlung der Schulen bei deren Finanzierung. Diese allerdings kann nur auf zwei Arten behoben werden: Entweder zieht sich der Staat überhaupt aus der Schulbildung zurück, oder er finanziert alle privaten Anbieter mit Steuergeldern.

Die Elternlobby aber fordert nur für bestimmte private Schulen, ihre sog. „freien Schulen“, eine staatliche Finanzierung, während die übrigen privaten Schulen weiter privat finanziert werden sollen. Somit wird einerseits eine begrenzte Ausdehnung der staatlichen Finanzierung gefordert, und damit, andererseits, gleich eine neue Ungleichbehandlung provoziert und in Kauf genommen. Damit werden die „freien Schulen“ gerade der Gefahr zusätzlicher staatlicher Bevormundung ausgesetzt, denn bei einer staatlichen Finanzierung einer „ausgelagerten“ Tätigkeit wird der Steuerzahler wohl zur Recht erwarten, dass der Staat den „Service Public“ im Sinne der staatlichen Schulbildung sicherstellt. Aber es werden umgekehrt auch die verbliebenen Privatschulen sich über diese begrenzte und potentiell willkürliche Ausdehnung der staatlichen Finanzierung unter dem Vorwand der „freien Schulwahl“ sowie die damit verbundene, noch widersprüchlichere Ungleichbehandlung zu Recht wehren.

Wer mit der Wirklichkeit rechnet, weiss also, dass diese Lösung so viel Unklarheiten bringt, dass sie keine definitive sein kann. Sie kann nur ein Zwischenschritt in Richtung desjenigen Ziels sein, welches auf dem heutigen geistigen Boden, unter den heute herrschenden sozialen Bedingungen überhaupt nur in Frage kommen kann, und darum im bisher Ausgeführten auch sichtbar wird: Der eigentlichen Liberalisierung, der wirtschaftlichen Liberalisierung des Schulwesens bis ganz herunter, bis zur Volksschule. Somit erweist sich diese Initiative als Speerspitze im Kampf für wirtschaftliche Freiheit, und keinesfalls schon für geistige Freiheit, auch wenn das von den Initianten wohl anders gewollt ist.

Selbst wenn mit solchen Initiativen vielleicht in gewissen Bereichen punktuelle und temporäre Verbesserungen erzielt werden könnten, wird die Annahme dieser Initiativen das Schulsystem destabilisieren, ohne dass ein gesellschaftlich tragender Boden für schulische Freiheit vorhanden wäre. Sobald dann das Volksschulsystem dereinst dem Staat ganz entrissen worden ist, wird es darum auch schon der Wirtschaft ausgeliefert sein. Und wer weiss es heute noch nicht, was es gerade für die geistige Freiheit bedeutet, den befreiten, also entfesselten Kräften der Wirtschaftswelt ausgesetzt zu sein. Diese Freiheit der Wirtschaft, des Kapitals, der Unternehmen, die schon lange mit aller Macht auch im Bildungsbereich immer weiter vordringt, wird dereinst dafür sorgen, dass die eigentlich berechtigten Anliegen der Initianten, die freie Wahl der Schulbildung, unter dieser willkürlichen Freiheit, welche auch Gewalt der „Marktkräfte“ genannt werden kann, zermalmt werden wird! Ein weiterer „Zufall“ will es, dass diese Sorge ihre indirekte Bestätigung findet im Vortrag von Prof. Dr. Stefan C. Wolter mit dem Titel: „Die Schule zwischen der Gewalt des Staates und der Gewalt des Marktes“, publiziert ausgerechnet auf der Webseite der Elternlobby unter der Rubrik „Argumente“!

Der zentrale Fehler der Initiative ist also die Verwischung von Begriffen und Motiven: Die Begriffe „Wirtschaftliche und geistige Freiheit“ einerseits, die Motive „Freiheit und Gleichheit“ andererseits. Damit wird gerade die Forderung nach geistiger Freiheit neutralisiert, denn sollte sie glaubwürdig sein, müsste sie heute zuerst gegenüber der wirtschaftlichen Freiheit begründet werden, nicht gegenüber dem Staat. Dies ist eine Grundforderung am Beginn des 21 Jahrhunderts.

„Es sind fragmetarische Gedanken, beflügelnde Ideen und Visionen, Ideologien, unzureichende Vorstellungen, Mutmassungen, Kurzschlüsse und Vor-Urteile. Das Gründen in der ganzen menschlichen Wesenheit in ihrem konkreten Verhältnis mit der Welt, was allein einen vollmenschlichen Gedanken garantiert, fehlt.“ Wenn Iris-Astrid Kern mit diesen Worten Recht haben soll, dann nur, wenn sie sich auch auf die Initiative für eine freie Schulwahl beziehen.

Der folgende Nachtrag wurde in Agorà 7/2012 als Antwort auf die Leserbriefe zum vorangehenden Text veröffentlicht.

Möglichkeiten, für die freie Schulwahl zu wirken

Meine Ausführungen über die „Initiativen für eine freie Schulwahl“ waren keineswegs gegen das eigentliche Ziel einer freien Schulwahl gerichtet. Sie wollten aber darauf hinweisen, dass das Wirken für ein heute noch idealistisches Ziel nicht ohne die entsprechende Berücksichtigung der realen Bedingungen erfolgen darf, will man die grosse Gefahr, in neuen Sachzwängen und Sackgassen zu landen, vermeiden. Aufgrund von Reaktionen ist mir klar geworden, dass, sollten meine Einwände gegen die „Initiativen für eine freie Schulwahl“ begründet sein, die Erwartung berechtigt ist, auch mögliche Wege und Ziele realistischen Handelns und ihre Begründung aufzuzeigen. Diese Ergänzung soll hier versucht werden.

Unsere gesellschaftlichen Verhältnisse werden heute durch eine epochale Übergangssituation geprägt: Idee und Wirklichkeit des verabsolutierten Staates sind am Schwinden, während sich die Vorstellungen einer verabsolutierten Wirtschaft in ungeheurem Masse zu verwirklichen beginnen. Unsere Bildung und Kultur steht jetzt mitten drin in diesen Umwälzungen, und droht, von der einen Abhängigkeit in die andere zu geraten. Sie kann umgekehrt nur insofern Freiheit beanspruchen, als sie in der Lage ist, unabhängig zu den Entwicklungen Stellung zu nehmen.

Es ist schon hilfreich, diese Entwicklung mit der Idee der Dreigliederung zu betrachten. Noch hilfreicher wird es, zu sehen, dass alle Brüderlichkeit sich nur durch die unternehmerische Freiheit wird verwirklichen können. Und genau hier kann die Freiheit des Geistes und der Gedanken ansetzen: Während das freie Geistesleben in sich selbst die Begründung finden- und daher aus sich selbst heraus bestehen muss, ist alles in der Wirtschaftswelt abgeleitet durch diese Geistestätigkeit, was nichts anderes heisst, als dass die unternehmerische Freiheit von der Freiheit des Geistes an und für sich abhängt. Es ist nun ureigenste Aufgabe derjenigen, die diese freie Erkenntnis haben, sie denjenigen plausibel zu machen, die auf die Freiheit des Geistes angewiesen sind. Es muss also gelingen, die tatsächliche Interessenlage aufzuzeigen: Es ist zentrales Interesse der unternehmerischen Freiheit, sich die Quellen aller Freiheit offen zu halten, ansonsten sich die unternehmerische Freiheit in letzter Konsequenz selbst zerstören wird. Diesem Interesse steht eine entsprechende Verpflichtung gegenüber: So, wie die freie Schulbildung niemals in die Abhängigkeit von wirtschaftlichen Interessen von Unternehmen geraten darf, muss sie umgekehrt sicherstellen, dass ihre pädagogische und erzieherische Arbeit geeignet ist, Schüler und Studenten immer freier zu machen.

Es ist der Begriff des „wirtschaftlichen Interesses“, der sog. „Nutzenmaximierung“, welcher den wichtigsten, aus sich selbst hervorgebrachten Impuls der Wirtschaftswelt beschreibt. Als Teil der liberalen und neoliberalen Ideologie lebt er sich aus als verkürzte Zerrform wirklichen menschlichen Interesses. Sobald man ihn also vollständig auf den ganzen Menschen und die ganze Gesellschaft bezieht, wie es hier andeutungsweise versucht wird, kann er auch vollständig berechtigt werden. Damit ist aber der Rahmen geschaffen, in welchem dann niemand in der Wirtschaft auf sein „Interesse“ wird verzichten müssen!

Mit dieser Forderung, welche zugleich ein Angebot ist, müssen sich die Vertreter einer freien Schulbildung immer mehr an die Akteure in der Wirtschaftswelt selbst richten. Sie müssen überzeugend aufzeigen, dass wenn die Wirtschaft dem Staat schon immer mehr die Steuergelder entzieht, um sie dann als Sponsorengelder wiederum der Gesellschaft zukommen zu lassen, diese Sponsorengelder für Bildung und Kultur allgemein an keinerlei Bedingungen geknüpft werden dürfen, und daher eigentlich zu Spenden- und Schenkungsgelder werden müssen. Den Akteuren der Wirtschaftswelt muss letztlich klar gemacht werden, dass es keine bessere, keine grösseren Gewinn versprechende Investition gibt, als diejenige in freie Bildung, in Freiheit und Geist, welche ihr es in Hülle und Fülle vergelten werden.

Dieser Weg ist selbstverständlich schwer, aber dafür zukunftsgerichtet und real. Denn so, wie die Ideen der Aufklärung, des Rechtsstaates und der Demokratie sich über lange Zeit im sich entfaltenden Staat durchsetzen mussten, werden die Ideen wirklicher Freiheit sich noch einmal gegenüber der expandierenden Ökonomisierung aller Lebensbereiche durchsetzen müssen. Die grossen Schwierigkeiten, die damit verbunden sind, wird die Phantasie freier Kultur und Pädagogik überwinden müssen, womit sie aber gerade die Berechtigung ihres Anliegens erweisen kann. Der Weg in die Zukunft führt heute also mitten in und durch die Wirtschaftswelt, wo mit dem Anliegen für die freie Förderung einer freien Schulbildung und entsprechenden Konzepten überzeugt werden muss. Auch die wirtschaftenden Menschen werden am Schluss dankbar sein, erkennen zu können, dass sie selbst Teil eines grösseren Ganzen sind, welches umgekehrt das selbständige Wirtschaftsleben als organischen Teil seiner selbst, des Gesamtorganismus der Menschheit, erkennt und erfährt.

Demgegenüber ist es von diesem Gesichtspunkt aus heute immer nutzloser und gefährlicher, an den Staat gelangen zu wollen, und am Schluss doch bei der Wirtschaft zu landen. Will man wirklich einen Staat, der am Ende seiner Saison steht, an sich selbst erstickt, von der Wirtschaft immer mehr vorgeführt, zweckentfremdet und ausgesaugt wird, und sich ihr schon beinahe vollständig ausgeliefert hat, noch zu etwas bringen, was bestimmten Schulen vielleicht einen kurzfristigen Vorteil bringt, aber dafür den übrigen und überwiegenden Teil der Jugend nur umso schneller kurzfristigsten, einseitigsten und uneinsichtigsten Wirtschaftsinteressen ausliefert?!?

Diese Gedanken sind notgedrungen sehr allgemein gehalten, möchten aber dennoch kernhaft auf grössere Zusammenhänge hinweisen, und so Rahmen und Ziel realistischen Handelns aufzeigen. Dem Konkreten und Einzelnen kann und soll hier nicht vorgegriffen werden, sondern Freiheit und Phantasie konkreter Initiativen vorbehalten bleiben.

Béla Szoradi, Bern

Quelle: Agorá 6/2012 und 7/2012, Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift Agorá und des Autoren