Ein befeuernder „Kernsatz“ aus Rudolf Steiners „Kernpunkten der sozialen Frage“

Ein befeuernder „Kernsatz“ aus Rudolf Steiners Kernpunkten der sozialen Frage lautet: „… man sieht nicht, wie es im Wirtschaftsleben selbst liegt, dass alles ihm Eingegliederte zur Ware werden muss. In der Erzeugung und in dem zweckmässigen Verbrauch von Waren besteht das Wirtschaftsleben.“

Dieser eine Satz löste in mir einen wahren inneren Begeisterungssturm aus – hatte ich ihn bereits einmal überlesen, so schlug er jetzt ein und eröffnete mir eine ganze Welt, denn er hatte in sich eine Kraft, zu einem endgültigen Befreiungsschlag zu führen – aus einem nebulös-öden, abstrakten, halbmarxistischen, linkstheoretischen Gedankengebäude mit den immer gleichen abgestandenen Schlussfolgerungen und illusionären Vorstellungen von irgendwelchen antikapitalistischen Kampfaktionen – dem ideologischen Erbgut der verkleinbürgerten, längst in die Bedeutungslosigkeit geratenen „Altachtundsechziger“ samt ihrer Vor- und Nachfahren. (50 Jahre reichen endgültig!)

Weg mit diesen moralinsauer-vermoderten grauen Zwangsgedanken!

Her mit der kristallklaren Gedankenluft der Wesenhaftigkeit eines objektiv-naturnotwendigen Urphänomens:

Ein Wirtschaftsleben, das gar nicht anders kann, als dass es alles, ALLES ihm Eingegliederte zur Ware machen MUSS – es ist nun mal sein Wesen, so wie wir essen, trinken und verdauen müssen, oder vielmehr, damit wir es sogar können ...

Denn genau das ist seine Aufgabe: uns mit dem zu versorgen, was unserem physischen Dasein dient, und das können nur die dafür hergestellten Produkte, die, um dem Verbrauch zugeführt werden zu können, im Wirtschaftskreislauf zur Ware werden müssen. In diesem wirtschaftlichen Prozess wirkt jedoch eine Kraft, die wie ein Sog alles in sich hineinzieht, es zwangsläufig zur ver- und käuflichen Ware macht und nicht Halt macht vor dem Menschen selbst. Sozusagen mit Haut und Haar saugt sie ihn auf – nicht nur mit dem Allerheiligsten, das er besitzt: seinen individuellen Fähigkeiten, die er als Arbeitskraft zu Markte tragen muss, sondern auch mit seinem gesamten Dasein.

Waren die damaligen Proletarier noch so gesund in ihrem Empfinden, dass sie ihre verlorene Menschenwürde als Lohnarbeiter wahrnahmen, wenn sie ihre an wesenlosen Maschinen ausgebeutete Arbeitskraft eben wie eine Ware verkaufen mussten – was nämlich genau das Aufkommen der sozialen Frage bewirkte, der sich gerade Rudolf Steiner hingebungsvoll wie kein anderer annahm –, so ist von diesem damaligen Feuer des Aufbegehrens in den sozialen Verhältnissen, das schlussendlich von den damaligen marxistischen Arbeiterfunktionären vereinnahmt wurde, heute nur noch die von den schläfrigen Altachtundsechzigern verwaltete und eingesargte ideologische Asche übrig, die keinen einzigen Funken mehr zu versprühen vermag.

Die vor weit über 100 Jahren ersten verzweifelten Schreie nach Menschenwürde eines elenden und doch bereits selbstbewussten Proletariats blieben ungehört von einer satten, bürgerlichen Klasse. In seinem Bedürfnis nach der geistigen Nahrung einer neuen sozialen Wissenschaft wurde es verführt und aufgefangen von einer Wissenschaft, die sich marxistisch bzw. antikapitalistisch nannte. Letztere lieferte zwar eine Analyse des „Kapitalismus“, blieb aber als bürgerlich-herkömmliche Wissenschaft im alten Denken verhaftet und bildete als solche schliesslich die Grundlage einer bis heute anhaltenden illusionären Ideologie der Arbeitskämpfe und politischen Machtspiele um rein wirtschaftlich gewinnorientiert ausgerichtete Interessen , die alle anderen gesellschaftlichen Bereiche in ihre Sackgasse mit hineinzieht.

Dieses Gespenst geht immer noch um, in immer wieder neuen Aufmachungen – gegen eine längst anonymisierte Klasse, ein ausbeuterisches System, einen brutalen Finanzkapitalismus, eine gerade sich anbietende, polarisierende politische Richtung u.s.w. – und läuft immer wieder nur ins Leere ...

Wirklich erhört wurden die Schreie der damaligen Arbeiter nach Menschenwürde und einer neuen sozialen Wissenschaft erst von Rudolf Steiner, der sich in ihre ureigensten Bedürfnisse und Nöte wie kein anderer einfühlte und in der Lage war, ihnen echte geistige, geisteswissenschaftliche, Nahrung zu geben.

Denn: „Für den Arbeiter stellte sich die Frage, ob sich seelisch mit dem wissenschaftlichen Materialismus, wie er von den Hochschulen kommt, ein menschenwürdiges Dasein führen lässt. Der Arbeiter muss sich diese Frage, die sich der Bourgeois nicht zu stellen braucht, verneinen. Diese geistige Situation des modernen proletarischen Arbeiters ist das eigentlich Wirksame im Ursprung der modernen ‹Arbeiterbewegung›, die allzubequem missverstanden wird, wenn man sie nur ausschliesslich unter dem Gesichtspunkte des Kampfes gegen einen fragwürdigen ‹Kapitalismus› sehen will.
Die moderne Arbeiterbewegung (womit nicht etwa eine sozialistische Parteistrategie gemeint ist) ist eine Weltanschauungsbewegung, sie dient als Plattform und Kampffeld für die grösste moderne Menschheitsfrage: die Frage der menschlichen Freiheit. Über Wert und Unwert auch des ‹Kapitalismus› wird nur eine Vertiefung der Freiheitsfrage Klarheit schaffen ...“
, so Karl Ballmer zu diesem Thema im Jahre 1946 in seinem Aufsatz „Der Arbeiter in geistiger Sicht“.

Es eröffnet sich eine schwindelerregende Aussicht, die uns Rudolf Steiner in den Worten Karl Ballmers entgegenhält.

Was liegt vor: Ein Wirtschaftschaftsleben – das alles zur Ware machen und auch Kapital hervorbringen muss, welches fliesst, und alles Mögliche zum Fliessen bringt. Diesem Wirtschaften liegen wesenhaft und gesetzmässig drei Elemente zugrunde:

  1. So zweckmässig und ökonomisch wie möglich Produkte hervorzubringen,
  2. diese produzierten Güter in die Zirkulation, in die Verteilung zu geben, damit sie dann
  3. als Waren durch den Handel dem Verbrauch, dem Konsumenten, zugeführt werden.

Das ist ein ganz objektiv notwendiger und gesetzmässiger Prozess, der weder gut noch böse, weder moralisch noch unmoralisch ist – es wäre sinnlos, damit Feindbilder wie „böse Kapitalisten“ oder „gute Antikapitalististen“ zu nähren … Vielmehr ist er als Tatsache im höchsten Sinne sozial, rein durch das Faktum der Arbeitsteilung, das sich durch alle wirtschaftlichen Prozesse zieht. Denn es kann niemand nur für sich selbst produzieren und verbrauchen. Ein Bäcker backt die Brötchen für andere, er isst sie nicht allein auf, und der Bäcker wird wiederum mit anderem von anderen versorgt. Einer für alle, alle für einen. Das, was ich leiste, leiste ich für andere, und ich nehme die Leistungen der anderen in Anspruch. Die moderne Arbeitsteilung, in diesem Sinne ein objektiv sozialer Prozess, verhindert also, dass ich nur für mich selbst arbeite. Rudolf Steiner spricht in diesem Zusammenhang von einem objektiven Altruismus. Das Einkommen, das jeder benötigt, ist davon völlig getrennt zu betrachten, es gehört in einen anderen, in den rechtlichen Bereich. Die Gewinne, die dabei entstehen in Form von Kapital, dienen dazu, diesen ganzen Prozess am Leben zu erhalten.

Wie steht nun der Mensch dazu oder vielmehr darinnen? Wie und wo findet er sich da wieder? In welchem Bewusstseinszustand? Lässt er sich von dieser Sogwirkung des alles zur Ware machenden Wirtschaftslebens überwältigen und fatalistisch zum Spielball von Angebot und Nachfrage machen mit der Folge ewigen Hinterherlaufens nach der Bezahlung seiner Arbeitskraft?

Überlässt er sich selbst und seine Naturgrundlage auch diesem Strudel, der immer wieder sich selbst hervorbringenden Kraft des ständigen Produzierenmüssens, die, um immer wieder Neues produzieren zu können, immer schneller verbraucht, vernichtet werden muss, sich selbst dabei verschlingt, alles mit sich reisst, unersättlich – bis die letzten menschlichen und natürlichen Ressourcen vernichtet sind?

Wir kennen die Bilder von den Verwüstungen, Brachen und Kloaken – Hinterlassenschaften von über die Kontinente wandernden Industriegebieten auf ihrer Jagd nach den billigsten Lohnarbeitern. Wir kennen das Phänomen der Überproduktion: Produkte, für welche Bedarfe vorgegaukelt werden müssen, Produkte, die schon nicht mehr real sind, die eigentlich gar nicht existieren, sogenannte Finanzprodukte, die keinerlei wirtschaftlichen Gegenwert mehr haben, die aus der grenzenlos abgründigen Phantasie von Hirnen entspringen, die einzig auf immer wieder neue Finanzprodukte sowie ihre Absatzmärkte spezialisiert sind, damit diese Absatzprodukte sich selbst ins Unermessliche steigern.

Wo findet sich der Mensch da überhaupt wieder? In seiner Ohnmacht des sich nicht Beteiligenkönnens? Um es kurz zu machen: Im Innehalten oder gar nicht. Es fängt im Geistigen an, im tätigen Nachdenken, wo der Mensch feststellt, dass er gerade in dieser Kraft, in der Kraft des Denkens beteiligt sein kann, wenn auch als Einziger bzw. gerade als Einziger und zunächst als Einzelner …

Oder dann eben in seiner Nivellierung, womit er abwesend und dennoch beteiligt ist als Konsument, unbewusst untergetaucht ins notwendig Materielle, Kollektivistische, gezwungen von seinem Hunger nach Befriedigung seiner physischen Bedürfnisse – und damit zwangsläufig zur immer weiteren Ausbeutung der ihm fernen Lohnarbeiter beitragen muss.

Uns ferne Lohnarbeiter, deren flehende Rufe heute verhallen, wie die der fernöstlichen Garnelenfischer, die, wenn sie ihren Zweck erfüllt haben, einfach ins Meer geschmissen werden und der Konsumentenmasse noch zurufen: Vergesst niemals, dass an den Garnelen, die ihr verspeist, unser Schweiss, unsere Tränen, unser Blut haftet ...

Wie erschütternd und brutal lebensvernichtend müssen denn die kranken sozialen Verhältnisse noch werden? Da heisst es oft, dass es doch schon viele gute Initiativen gibt, wie Fairtrade, Gemeinwohlökonomie, Nachhaltigkeitsaktivitäten, Grundeinkommen-Initiativen etc. bis hin zu Barmherzigkeitsaktionen, die aber alle, so gut gemeint sie auch sind, nichts an der Tatsache „Ware Mensch“ ändern. Und wenn die Machteliten des heutigen neoliberalen Finanzkapitalismus noch so viel anstellen, insbesondere sich immer wieder unseres „Gehirns“ bemächtigen wollen (wie es ganz offen benannt wird!), mit allen Mitteln, um ihre alleinigen Interessen zu sichern – kann der Einzelne dennoch aussteigen aus dem brutal materialistischen Gedanken „Ware Mensch“.

Erhobenen Hauptes kann er sich dazu aufmachen, sich seines Menschwerdens als individuell-geistiges Wesen denkend und empfindend allmählich bewusst zu werden und in diesem Zustand zu einer ihm – seiner geistigen, seelischen und physischen Organisation adäquaten äusseren sozialen Struktur zu gelangen. Im Aufnehmen der „Kernpunkte der sozialen Frage“ Rudolf Steiners, dem Studieren der sozialen Gesetze – geisteswissenschaftlich, so wie auch die im Menschenorganismus wirkenden Gesetze studiert werden können –, kann sich der Mensch von seiner empfundenen Ohnmacht gegenüber den kranken sozialen Verhältnissen befreien. Er kann sich dazu entschliessen, einen lebendigen sozialen Organismus denken zu lernen und ihn nach Gesundheit und Krankheit zu betrachten und zu untersuchen, gleich wie ein menschlicher Organismus nach Gesundheit und Krankheit zu betrachten ist. Was braucht eine alles überwuchernde und verschlingende Wirtschaft? Die heilende, lebendig gestaltende Kraft aus dem Geistigen, die lernt, dieses überbordende Wirtschaften immer wieder neu in seine Schranken zu weisen, es an seine ihm angemessene Stelle innerhalb des ganzen sozialen Organismus zu setzen und diesen als ein Ganzes in seinen drei einzelnen, selbstständigen Gliedern (Geistesleben, Rechtsleben, Wirtschaftsleben) ständig zu ordnen, sie in ihrem gegenseitigen - jeweils autonomen - Zusammenspiel und Befruchten zu harmonisieren.

Angesichts unserer heutigen sozialen Verhältnisse ist dies eine wahrlich schwindelerregende und tiefkomplexe Angelegenheit. Aber es führt kein Weg mehr daran vorbei, innerhalb der „Anthroposophenschaft“ und ihrer Anhänger die soziale Frage geisteswissenschaftlich in ihrem allertiefsten Ernst aufzunehmen. Rudolf Steiner (in GA 334 am 17.03.1920): „Wie meine Philosophie der Freiheit untersucht, woraus beim einzelnen Menschen die Kräfte der Freiheit kommen, so untersuchen meine Kernpunkte, wie der soziale Organismus geschaffen sein muss, damit der einzelne Mensch sich frei entwickeln kann. Und das sind im Grunde genommen die beiden grossen Fragen, die uns im öffentlichen Leben der Gegenwart beschäftigen müssen.“

Christiane Linde-Bonsignore, Hamburg

Der Artikel erschien in „AGORA“ März/April 2019
Abdruck mit freundlicher Genehmigung von AGORA