Die „oberschlesische Aktion“ der sozialen Dreigliederer 1920/1921

Erinnerungen prinzipieller Art

01.09.1962

Quelle
Zeitschrift „Die Drei“
32. Jahrgang, Heft 5/1962, September-Oktober 1962, Seite 290-294
Bibliographische Notiz

Wir haben Herrn Dr. Heyer, der seinerzeit die oberschesische Aktion von Stuttgart aus miterlebt hat, gebeten, unseren Lesern einiges Grundsätzliche darüber zu berichten. Die Schriftleitung.

Man darf nicht denken, daß die Ordnung der Weltverhältnisse gewissermaßen von selber sich ergebe. Ihrer Ordnung oder auch der Unordnung, in der sie sich heute befinden – und die ja von Menschen hergestellt wird –, liegen vielmehr bestimmte politische Gedanken oder Impulse zugrunde, die in einer Zeit wie der unseren herrschend geworden sind. Und die „Ordnung“ wird dann der Qualität dieser Impulse entsprechen. Der Ordnung des politischen Lebens der Gegenwart liegen in mancher Beziehung die „Ideen“ zugrunde, die seinerzeit (zuletzt im Januar 1918) in Form der berühmten 14 Punkte Woodrow Wilson, der nordamerikanische Präsident, der Welt wie eine politische Heilsbotschaft verkündet hatte, und mit der er nur allzu viel Glauben fand. Er fand ihn deshalb, weil diese Botschaft anknüpfte an Ideen und sie verwendete, die allgemein verbreitet waren, so daß diese Botschaft eigentlich nichts anderes war als nur eine billige Kombination dieser allgemein verbreiteten Ideen.

[Die Drei, 5/1962, September-Oktober 1962, Seite 290]

Seit Jahrhunderten hatte sich der Einheitsstaatsgedanke bzw. -Impuls herausgebildet und war von den Menschen aufgenommen worden, also die Idee oder die „Praxis“, daß Geistesleben, Recht und Wirtschaft als eine Einheit von einem Zentrum, d. h. dem Staate, aus verwaltet bzw. „geordnet“ werden müßten. Wir haben viel in unseren geschichtlich-sozialwissenschaftlichen Werken darüber geschrieben. Dieser Gedanke des Einheitsstaats funktioneller Art hatte sich besonders seit den Tagen der italienischen Renaissance mit suggestiver Kraft bei den Menschen verbreitet. Man kam bald nicht mehr auf die Idee, daß überhaupt das soziale Leben anders geordnet werden könne. Das zweite war der Siegeszug des nationalen Impulses, den man eigentlich keine „Ideen“ nennen sollte, da er von echten Ideen eher das Gegenteil ist. Er setzte sich zuerst im Westen der Welt durch, wo seit dem endenden Mittelalter die großen Nationalstaaten entstanden, allen voran Frankreich, später in der ganzen Welt und heute am stärksten bei den am meisten zurückgebliebenen Völkern. Wilson kombinierte sie beide. Und so entstand aus der Kombination von Einheitsstaatsgedanke und Nationalimpuls die sogenannte Idee von der „Selbstbestimmung der Völker“.

Aber diese Idee ist eine Pseudoidee.[1] Bei dem, worum es sich handelt, müßte es auf die Selbstbestimmung des einzelnen Menschen abgestellt werden. Ein Volk ist dann „frei“, wenn es die einzelnen Menschen sind, wenn z. B. in einem Territorium die Menschen ihr Volkstum bestimmen und ausleben können, seine Sprache sprechen, seine Kultur pflegen können, die Formen und den Inhalt ihres Geisteslebens in Freiheit selbst bestimmen können, kurz, wenn sie ein freies Geistesleben haben. Zu letzterem gehört bekanntlich im Sinne der Dreigliederung des sozialen Organismus auch das Gerichtswesen (Rechtsprechung). Dieses könnte in der Verfassung, die ihm der dreigliedrige soziale Organismus gibt, gerade in national gemischten Gegenden eine erhebliche Bedeutung haben zusammen mit der Möglichkeit, wie sie in Rudolf Steiners „Kernpunkten der sozialen Frage“ vorgesehen ist, sich seinen Richter bis zu einem gewissen Grade selbst zu wählen bzw. auszuwählen unter von der geistigen Organisation dazu Aufgestellten.

Die „Freiheit“ eines Volkes, bzw. des auf seinem Boden errichteten Staates, die ihm zugehörigen Individuen zu unterdrücken, z. B. den einzelnen ein ihnen nicht genehmes Schulwesen aufzuoktroyieren, ist zwar mit dem „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ durchaus vereinbar, nicht aber mit echt menschlichen Zuständen, die in der Gegenwart Freiheit für die Einzelnen fordern, z. B. das Recht, das Schulwesen für ihre Kinder zu bestimmen. Den Sinn der Menschheitsentwicklung, wie sie sich bis in modernere Zeiten vollzogen hat, verkennt, wer im Geistigen nicht alles auf den einzelnen Menschen abstellt, wodurch, wie gesagt, auch das Volk frei wird, so wie die Wirtschaft nach reinen Sachgesichtspunkten in Zweckmäßigkeit über die Staatsgrenzen hinweg sollte gestaltet werden können.

Verkennungen solcher Art lagen im großen Stile dem zugrunde, was z. B. in

[Die Drei, 5/1962, September-Oktober 1962, Seite 291]

dem Versailler „Friedens“-Vertrag 1919 stipuliert wurde aus dem charakterisierten Denken heraus, das besonders durch den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson eine charakteristische Nuance angenommen hatte und im größeren Maßstabe weltgestaltend wurde. Dazu gehört nun auch das Schicksal, das dem Lande Oberschlesien dadurch bereitet wurde, daß gemäß dem „Friedens“-Vertrag im Jahre 1921 (am 20. März) dort die Bevölkerung darüber abzustimmen aufgerufen wurde, ob das Land mit seiner reichen Industrie zu Deutschland, d. h. zu Preußen kommen bzw. dort verbleiben solle, oder zu dem neu gebildeten Staate Polen. Diese Sache liegt zwar nun schon ziemlich weit zurück, kann aber infolge der typisch falschen Fragestellung noch heute als lehrreich interessieren und sollte dies tun. Denn man kann an dem Fall allerhand lernen. Damals jedenfalls sahen wenigstens (leider nur) die „Dreigliederer“, daß es eine von Grund auf falsche, ja törichte Fragestellung war, die durch die Bestimmung des Versailler Friedensvertrags an die Einwohner des Landes herangebracht wurde, denn keine Seite der Alternative, – Zuteilung zu Deutschland bzw. Preußen oder Polen, (die endgültige Entscheidung hatte die Entente als Siegerin im 1. Weltkrieg zu fällen, und es stand ihr frei, das Abstimmungsergebnis so oder so zu würdigen, was ja dann zugunsten Polens zu einer Teilung des Landes führte, indem ein Teil des Landes trotz dem für Deutschland-Preußen ausgefallenen Gesamtabstimmungsergebnis Polen zugeteilt wurde) – konnte zu einem befriedigenden Ergebnis führen. Besonders die schlesischen bzw. Breslauer Dreigliederer erkannten damals richtig, daß die oberschlesische Frage nur im Sinne der Dreigliederung sachgemäß gelöst werden könne. Sie wandten sich deshalb an den Bund für Dreigliederung des sozialen Organismus, dessen Zentrale sich damals in Stuttgart befand, mit der Bitte, ihnen bei einer erwogenen oder beabsichtigten Aktion in Oberschlesien selbst, die auf die Dreigliederung als den Weg zur Lösung der oberschlesischen Frage hinzuweisen habe, zu helfen. Diese Hilfe wurde ihnen auch zuteil, besonders dadurch, daß Rudolf Steiner, der die Initiative der Breslauer lebhaft begrüßte, Ende 1920 für ihre Aktion einen Aufruf des Bundes für Dreigliederung des sozialen Organismus, Ortsgruppe Breslau, verfaßte und ihnen zur Verfügung stellte, und außerdem denen, die als Schlesier als Vortragende bzw. Redner oder Agitatoren, die nach Oberschlesien gehen wollten, einen Orientierungskurs gab, den sogenannten „Oberschlesischen Kursus“, der ihnen wesentliche Substanz für ihre Arbeit gab.

Der Aufruf „zur Rettung Oberschlesiens“ ist neuerdings abgedruckt worden.[2] In diesem Aufruf, der sich an die Oberschlesier wendet und in Oberschlesien

[Die Drei, 5/1962, September-Oktober 1962, Seite 292]

verteilt und in den Vorträgen erörtert wurde, wird die oberschlesische Frage als eine Frage ganz Europas behandelt, ihr dreigliedriger, d. h. ihr wirtschaftlicher, geistig-kultureller und rechtlich-politischer Charakter aufgewiesen und die Schaffung eines Übergangszustandes für Oberschlesien gefordert. In dem bisherigen Staate, heißt es, waren die drei Gebiete verquickt, und aus diesem Durcheinander seien letzten Endes die chaotischen Zustände der Gegenwart (also 1920/21) hervorgegangen. „Die einzige wirtlichkeitsgemäße Gestaltung des sozialen Lebens kann daher nur in einer Verselbständigung dieser drei Gebiete bestehen. Den Weg dazu weist die Dreigliederung des sozialen Organismus.“ Diese wird dann in Kürze etwas näher ausgeführt und auf das Buch „Die Kernpunkte der sozialen Frage“ von Dr. Rudolf Steiner verwiesen. „Bevor nicht“, heißt es weiter, „in ganz Europa eine solche gesunde Dreigliederung des sozialen Organismus in den verschiedenen Staatsgebieten durchgeführt ist, kann auch die oberschlesische Frage nicht wirklichkeitsgemäß einer endgültigen Lösung zugeführt werden.“ Es gelte also einen vorläufigen Zustand zu schaffen in folgender Weise: „Das oberschlesische Gebiet lehnt die Angliederung an einen angrenzenden Staat vorläufig ab, bis dort selbst ein Verständnis für die Dreigliederung erweckt ist. Es konstituiert sich so, daß seine Wirtschaftsfaktoren sich selbst verwalten – ebenso seine geistigen Faktoren. Es schafft ein Zusammenstimmen der beiden durch einen provisorischen, nur über sein Gebiet sich erstreckenden rechtlich-polizeilichen Organismus und bleibt in diesem Zustand bis zur Klärung der gesamten europäischen Verhältnisse.“ Dieser Zustand erscheine als ein Musterbeispiel für die Maßnahmen, die ganz Europa treffen muß zur Gesundung seiner Verhältnisse. Helfen werde den Einwohnern Oberschlesiens nur, was sie von diesen Forderungen bei der Entente-Kommission durchsetzen könnten. Alles andere sei für sie wertlos.

Dieser Aufruf wurde, wie schon gesagt, in Oberschlesien bei den Veranstaltungen verteilt und erörtert. Diese mußten unter ungünstigen Verhältnissen stattfinden. Die Bevölkerung war schon auf beiden Seiten nationalistisch zu sehr verhetzt, um die Stimme der Vernunft wirklich zu vernehmen, wenn die Aktion auch manche Beachtung fand. Zu sehr standen die Menschen im Banne der falsch gestellten Alternative – deutsch oder polnisch –, als daß die Parteien an einen Verhandlungstisch gebracht werden konnten. Manche Versammlungen gestalteten (bzw. chaotisierten) sich zu „Saalschlachten“ mit Störungstrupps und dergleichen. Die meisten starrten zu sehr auf die Abstimmung, als daß sie hätten sich selbst besinnen und einsehen können, daß es gelte, die Abstimmung selbst, die zu nichts Ersprießlichem führen und kein Weg zu einer befriedigenden Lösung der oberschlesischen Frage sein konnte, zu vermeiden.

So wurde im Sinne des alten, überlebten Denkens gehandelt, abgestimmt, entschieden. 60 Prozent der Stimmen waren für ein Verbleiben Oberschlesiens beim Deutschen Reich. Es wurde aber ein Stück von Oberschlesien, das wertvollste,

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zu Polen geschlagen (mit Pless, Myslowitz, Kattowitz, Königshütte, Tarnowitz, Rybnik und Lubliniz), das übrige zu Deutschland-Preußen.

So war eine Gelegenheit versäumt, eine zeitgemäße, wenn auch nur provisorische Lösung der oberschlesischen Frage zu finden.

Man stelle sich aber einmal hypothetisch vor, es hätte ja schließlich auch einmal die Stimme der Vernunft siegen können, so ungewohnt sie auch war. Dann wäre ein weithin sichtbares Vorbild oder Beispiel geschaffen worden, das zunächst in Ost-Mitteleuropa manche Nachahmung hätte finden können, die segensvoll auf die dortigen damaligen Nationalitätenverhältnisse und Wirtschaftszusammenhänge hätte wirken können. Zum Beispiel auf die Verhältnisse in und um Polen. Die Tschechoslowakei hätte etwas ganz anderes, Zeitgemäßes werden können, die barbarische Vertreibung ganzer Bevölkerungen aus ihrer Heimat wegen ihrer nationalen Zugehörigkeit wäre nicht in Betracht gekommen, und welche Auswirkung es auf den weiteren Verlauf der Dinge hätte haben können, braucht hier wohl nicht ausgemalt zu werden. So aber siegte eben das alte, überlebte, gewohnheitsmäßige Denken und führte zu Unheil über Unheil, wie man es besonders bei dem jetzigen hoffnungslosen Zustand der Ost-West-Probleme sieht, die ja auch eine Frucht dieses überlebten Denkens sind. Für die Zukunft wäre es darauf angekommen, die geschichtlich veranlagte und gewollte Beziehung zwischen dem deutschen und dem östlichen Element zu finden, die „geistige Ehe“ zwischen beiden, von der Rudolf Steiner gesprochen hat. Dazu hätte die soziale Dreigliederung entscheidend beitragen können.

Das deutsche Volk, das berufen war, sie initiativ in die Weltenverhältnisse hineinzustellen, versagte auch hier und schuf sich dadurch neues ungutes Karma (Schicksal). Es hätte die „oberschlesische Aktion“ stark stützen müssen. Statt dessen sah es bei dieser mehr oder weniger unbeteiligt zu, und gewisse Exponenten eines später machtvoll zum Siege gelangenden deutschen Nationalismus erhoben sogar (nicht aus Oberschlesien übrigens, sondern aus Innerdeutschland) den unsinnigen und absurden Vorwurf des „Landesverrats“ gegen die, die eine wahrhaft zeitgemäße und allen Rechnung tragende, eben europäische Lösung der oberschlesischen Frage wollten.

Aber durch die „oberschlesische Aktion“ von 1920/1921 ist doch, trotz ihres äußeren Scheiterns, ein geistiger Keim in das Erdreich der sozialen Entwicklung der Welt gelegt worden. Daß dieses der Vergessenheit entrissen werde, war der Zweck dieses Aufsatzes in einer Zeit, in der wir von den Folgen der Nicht-Aufnahme jenes Impulses im großen Stile umgeben sind und in der wir jeden Tag aufs neue erleben können, wie die Zeiten des Nationalstaates unwiderrufbar vorüber sind, und daß gegen den Sinn der Entwicklung verstößt, wer sie irgendwie zu erhalten versucht.

Möchten solche Keime irgendwann aufgehen! Wir haben die Hoffnung, ja die Gewißheit, daß es irgendwo geschehen wird.

[Die Drei, 5/1962, September-Oktober 1962, Seite 294]

Anmerkungen

[1] Siehe hierzu: Fritz Götte ,Selbstbestimmung der Völker – Friedliche Koexistenz und der freie Mensch“ in „Die Drei“, Heft 1/1961.

[2] Siehe das Buch „Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus und zur Zeitlage 1915/1921“, Dornach 1961, Verlag der Rudolf Steiner-Nachlaßverwaltung, Dornach/Schweiz, S. 461-465. Die Geschichte der oberschlesischen Aktion ist auch erzählt worden von Dr. Guenther Wachsmuth in seinem Buche „Rudolf Steiner. Erdenleben und Wirken ... Eine Biographie“, 2. Auflage, Philosophisch-Antkroposophischer Verlag am Goetheanum, Dornach (Schweiz) 1951, S. 422 und in dem Buche von Emil Leinhas, „Aus der Arbeit mit Rudolf Steiner. Sachliches und Persönliches“, R. G. Zbinden & Co. Verlag, Basel 1950, S. 17-90.