Über die pädagogische Forschung an der Hiberniaschule

01.06.1967

Quelle
Zeitschrift „Beiträge zur Dreigliederung des sozialen Organismus“
12. Jahrgang, Heft 3/4, Juni 1967, S. 73–75
Bibliographische Notiz

Die Bildungsarbeit, die Anfang Mai 1952 im damaligen Stickstoffwerk der Bergwerksgesellschaft Hibernia AG begonnen wurde und im weiteren zur Begründung der Hiberniaschule führte, geschah um der jungen Menschen willen, denen sie zuteil wurde. Sie wurde aber begonnen aus einer pädagogischen und sozialwissenschaftlichen Frage heraus und darum immer auch als ein Forschungsvorhaben betrachtet und durchgeführt. Bei aller Konzeption und Erprobung war immer der Modellcharakter bestimmend, also die Frage nach der Vergleichbarkeit und nach der Möglichkeit, zu übertragen.

Was in den 14 Jahren entstanden ist, hat immer mehr im Ganzen und in wesentlichen Teilen als ein solches Modell Beachtung gefunden. Das gilt besonders für die an unserer Schule entwickelte Arbeitslehre, also die den Schülern im 7. bis 10. Schuljahr gegebene künstlerisch-handwerkliche Grundschulung und technische Elementar-Erziehung. Der Gedanke einer solchen praktischen Allgemeinbildung, die der späteren speziellen Berufsausbildung vorausgeht und dem jungen Menschen entscheidende Hilfe für seine Entwicklung im Reifealter gibt, hat Aufnahme gefunden in den Empfehlungen des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen. Von der Deutschen Hochschule für Internationale Pädagogische Forschung in Frankfurt wird darum eine Untersuchung durchgeführt, die zu einer Gesamtdarstellung der Hiberniaschule führen und dabei insbesondere das Modell der an unserer Schule entwickelten Arbeitslehre darstellen soll.

In diesem Zusammenhang findet unsere Schule bei all den Stellen besondere Beachtung, die um den Ausbau der Volksschule (9.-10. Schuljahr) und ihre Umgestaltung zu einer Hauptschule bemüht sind. Hier interessiert neben der Arbeitslehre besonders die Zusammenfassung unserer 7. bis 10. Klasse als Mittelstufe, die Fragen des Fremdsprachenunterrichts, der künstlerischen Erziehung und der differenzierenden Entwicklung der Schüler durch ganz verschiedenartige Unterrichtsvorhaben.

Schließlich wird in unserer Schule ein erstes entscheidendes Modell der neuen Konzeption einer Gesamtschule gesehen, und zwar ein Modell, in dem die verschiedenen Schularten nicht nur äußerlich zusammengerückt sind, sondern eine pädagogische Integration gefunden haben,

[Beiträge, Juni 1967, S. 73]

in der die Schüler einen gemeinsamen Bildungsgang durchlaufen, der sie stufenweise so führt, daß jeder in allen ihm möglichen Begabungen angesprochen und gefördert wird und dadurch finden kann, bis zu welch einem ihm gemäßen Abschluß er gelangt (Berufsreife, Fachschulreife, Hochschulreife). Vor allen Dingen ist ein für das deutsche Schulwesen entscheidender Schritt an unserer Schule geschafft worden, nämlich den pädagogisch so unheilvollen Bruch zu überwinden zwischen einem sogenannten allgemeinbildenden und einem berufsbildenden Schulwesen. Daß eine solche Gesamtschule zugleich auch eine ganz neue soziale Wirklichkeit gewinnen muß, daß in ihr der junge Mensch nicht nur Unterricht finden darf, sondern einen ihm gemäßen Lebensraum, kann an unserer Schule wahrgenommen werden: an ihren Einrichtungen als Ganztagesschule in der Mittel- und Ober-Stufe, ferner an der Bildung einer Schulgemeinde durch das intensive Einbeziehen der Elternschaft in das Schulleben wie auch durch das Eingliedern dieser Schule in ganz konkrete wirtschaftliche Zusammenhänge.

Der in jüngster Zeit heraufgekommene Gedanke des programmierten Unterrichtes hat vieles Hergekommene im Schulwesen in Frage gestellt und bewirkt, daß man den Lernvorgang neu durchdenkt, seinen Zusammenhang mit den inneren Entwicklungen der jungen Menschen, aber auch mit den äußeren Einrichtungen und Ordnungen zu erkennen versucht. Man sucht dabei Erziehung und Unterricht als ein geschlossenes Lernsystem zu begreifen und zu entwickeln. Die Arbeit am Lehrplan unserer Hiberniaschule steht entsprechend unter dem Gedanken, daß ein solcher Lehrplan ein Gesamtkunstwerk sein muß, ein lebendiges System von Entwicklungsbezügen, und daß, was so ideenhaft konzipiert werden kann, nur Schulwirklichkeit wird, wenn es gelingt, zugleich eine adäquate Lehrverfassung zu entwickeln.

Es ist das Besondere einer wirklichen Forschung im Pädagogischen, daß diese nicht nur von einem Seienden ausgehen darf, sondern daß sie aufgerufen ist, ihren Gegenstand selber zu konzipieren und zu entwickeln, um dann an ihm und durch ihn forschen zu können, wie dies an der Hiberniaschule möglich ist.

Dem dienen die geplanten Untersuchungen und Veröffentlichungen der Pädagogischen Forschungsstelle an der Hiberniaschule, deren erste unter dem Titel «Ziel, Aufbau und Entstehung der Hiberniaschule» im Frühjahr 1967 erschienen ist. Weitere sollen folgen.

Es wird unsere Aufgabe sein, ein Schul- und Bildungswesen zu entwickeln, das den immer deutlicher sprechenden Forderungen unserer Zeit - den allgemein menschlichen wie den gesellschaftlichen - endlich ent-

[Beiträge, Juni 1967, S. 74]

spricht und darüberhinaus ein Wurf in die Zukunft ist. Wir können die Zukunft aber nur meistern, wenn wir die Kraft und die Liebe zum Menschlichen in unseren Kindern mehr als je zuvor bewahren und stärken. Eine solche Aufgabe werden wir nur erfüllen, wenn sich viele Kräfte vereinen und alle bereit sind, sich wahrzunehmen und voneinander zu lernen.

[Beiträge, Juni 1967, S. 75]