Wie wir durch unsere Menschennatur mit anderen Menschen verbunden sind

26.06.1977

Quelle
Zeitschrift «Goetheanum»
56. Jahrgang, Nr. 26/1977, 26.06.1977, Seite 205–207
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors
Bibliographische Notiz

Den Schmerz des unmittelbaren Erlebens, der doch dagewesen sein muss, lässt Rudolf Steiner die heutigen Leser seines Vortrages vom 11. Juni 1922 nicht fühlen, wenn er dieses Erlebnis mit der schlichten Feststellung zum Ausdruck bringt: Im Grunde missverstanden auf allen Seiten. Worum handelt es sich? Nach der Vortragsreihe Anthroposophie und Wissenschaften auf dem Wiener West-Ost-Kongress hält Rudolf Steiner die Reihe Anthroposophie und Soziologie. Der letzte Vortrag dieser Reihe, der auch den Titel jener Schrift trägt, an deren Veröffentlichung sich das gemeinte Erlebnis einstellte, beginnt mit den Worten: «Als ich – vor drei Jahren etwa – auf Verlangen einer Reihe von Freunden, die damals unter dem Eindruck der Ereignisse im sozialen Leben nach der vorläufigen Beendigung des grossen Weltkrieges standen, meine Kernpunkte der sozialen Frage veröffentlicht hatte, da ergab sich für mich als, ich möchte sagen, das unmittelbare Erlebnis, dass diese Veröffentlichung im Grunde missverstanden worden ist auf allen Seiten ... » Was hier als Schilderung des unmittelbaren Erlebens von Rudolf Steiner verschwiegen wird: Lässt es sich mittelbar – im Durchdenken und Durchfühlen der von Rudolf Steiner angeschlagenen Motive – nach- und miterleben?

[Zeitschrift «Goetheanum», Jahrgang 56, Nummer 26, 26.06.1977, Seite 205]

Was wollte Rudolf Steiner mit dieser Veröffentlichung - und was wollte er nicht? Einen Satz später sagt er: «Meine Schrift war gewissermassen als ein Appell nicht an das Denken über allerlei Einrichtungen, sondern als ein Appell an die unmittelbare Menschennatur gemeint.» Aber diese Schrift wurde eben doch als Appell zum Denken über allerlei Einrichtungen aufgefasst: «So hat man namentlich vielfach dasjenige, was ich eigentlich nur zur Illustration der Hauptsache gegeben habe, für die Hauptsache selbst genommen.» – Was aber ist diese Hauptsache?

In den folgenden Ausführungen wird die hier zu erfassende Hauptsache in einem engen Zusammenhang mit dem Motiv der «unmittelbaren Menschennatur» gesehen. Dieses Motiv nach und nach in seiner vollen Tragweite zu entfalten, scheint mir eine der gegenwärtig wichtigsten Aufgaben der anthroposophisch orientierten Gesellschaftswissenschaft zu sein. Die vorliegende Darstellung möchte zu dieser Entfaltung beitragen. Sie geht daher von der Frage aus, inwiefern es diese Menschennatur ist, die uns mit anderen Menschen in Beziehung bringt. Sie versucht jedoch, diese Frage nach einer anderen Richtung hin einer Lösung näher zu bringen, als das in dem Aufsatz «Menschenbegegnung als soziales Urphänomen» in dieser Wochenschrift (55. Jg., Nr. 38) versucht wurde.

Jeder Tag bringt uns durch unsere eigene Natur beispielsweise insofern zu anderen Menschen in Beziehung, als wir zur Befriedigung unserer Bedürfnisse, zur Deckung unseres Bedarfes auf die Leistungen dieser anderen Menschen angewiesen sind. Zählen wir ein wenig auf: Um uns zu kleiden und zu wohnen, um essen und trinken zu können, um informiert oder unterhalten zu werden, um eine Reise oder einen Urlaub machen zu können, aber auch, um z. B. als Kind unterrichtet, als Kranker gepflegt zu werden usw., sind wir – ob wir eigens darauf achten oder nicht – unter den heutigen Verhältnissen von anderen Menschen abhängig. Gewiss, das Wasser, das wir uns in Flaschen abgefüllt von einer Getränkefirma kommen lassen, macht uns diesen Zusammenhang, da der Lastwagenfahrer uns alle zwei Wochen seine Ware ins Haus bringt, ein wenig deutlicher bewusst als das Wasser, das wir täglich der Leitung entnehmen. Aber das liegt an der Eingeschränktheit unserer gewöhnlichen Aufmerksamkeit, und nicht daran, dass alle die angezeigten vielfältigen Verhältnisse nicht vorhanden wären. Ja, es ist ein Charakteristikum unserer Zeit, dass sich das Gewebe der Beziehungen, in denen jeder Einzelne von uns zu den Menschen steht, die für uns arbeiten, heute über nahezu den ganzen Erdball ausgebreitet hat, während wir gewöhnlich nur einen winzigen Ausschnitt davon wirksam im Bewusstsein haben.

Doch ist Bedarfsbefriedigung nicht der einzige Grund, aus dem heraus wir im täglichen Leben zu anderen Menschen in Beziehung treten. Ein anderer liegt dort vor, wo wir, wie das in aller beruflichen Arbeit geschieht, mit anderen Menschen gemeinsam nach Kräften die konkreten Aufgaben zu lösen suchen, die uns das Berufsleben stellt. Ob es dabei nun um das Backen von Brot, das Herstellen von Kleidung, um den Bau von Häusern oder Autos geht, ob es sich um die Arbeit einer Zeitungsredaktion oder eines Schauspielensembles, die Tätigkeit in einer Schule oder in einem Krankenhaus handelt; immer braucht jeder einzelne von uns die Zusammenarbeit mit anderen Menschen, um seine speziellen Anlagen und Begabungen, seine Fähigkeiten, seine Geschicklichkeit, ja seine körperliche Kraft für die zu lösende Aufgabe fruchtbar zu machen. Hier kommt also eine ganz andere Seite der Menschennatur als bei den vorher angezeigten Verhältnissen in Betracht. War dort von dem Menschen als einem «Bedarfswesen» die Rede, durch das er zu anderen Menschen in Beziehung tritt, so muss hier von dem Menschen als einem «Fähigkeitswesen» gesprochen werden, durch das er Partner für andere Menschen wird.

Und noch eine dritte Seite der menschlichen Natur bringt uns mit anderen Menschen in einen Zusammenhang. Wenn wir auf den Menschen als ein «mündiges» Wesen hinschauen, kommen dabei in sozialer Hinsicht weder spezielle Kräfte und Fähigkeiten noch eine spezifische Bedarfslage in Betracht, dagegen aber die Tatsache, dass er zu anderen Menschen durch Rechte und Pflichten in ein gegenseitiges Verhältnis tritt. Dies geschieht beispielsweise dadurch, dass er die Übereinkunft über Rechte und Pflichten eines bereits bestehenden Menschenzusammenhanges übernimmt und dadurch in diesen Zusammenhang eintritt, so etwa die Gesetze eines Landes oder auch nur die Regeln des Kraftwagenverkehrs, die zu einer Partnerschaft als Bürger oder als Autofahrer führen. Oder es geschieht dadurch, dass Menschen untereinander über ihre gegenseitigen Rechte und Pflichten Verträge abschliessen oder Verabredungen treffen, wie z. B. ein Mietvertrag, oder auch nur die Verabredung eines Termines oder Treffpunktes.

Im Hinblick auf die so angeschaute Menschennatur ist also das Gewebe der Verhältnisse und Beziehungen, die uns erkannt oder unerkannt mit anderen Menschen verbinden, nicht aus gleichförmigen, sondern aus dreimal verschieden gearteten Fäden gewoben. Jeder soziale Zusammenhang, jede Institution, jedes Unternehmen erweist sich, auf diesem Wege betrachtet, zwar als ein verschiedenes Muster in diesem Gewebe, doch haben wir es dabei immer mit allen drei Arten von Beziehungen zu tun. Was so die Besinnung des Menschen als eines Sozialpartners auf sich selber an Differenzierungen ergibt, kann – das muss sorgfältig beachtet werden – deshalb nicht einfach in die äussere, gewissermassen «gegenständliche» Anschauung des sozialen Lebens übertragen werden. Auch soziale Vorgänge wie «Einkaufen», «(berufliches) Arbeiten» usw. sind, so sehr sie für das gewöhnliche Bewusstsein ein Einheitliches darstellen, innerlich von mehreren in der Selbstbesinnung aufzufindenden sozialen Beziehungen getragen. Zu der Bedarfsbefriedigung bzw. dem gemeinsamen Einsetzen der Fähigkeiten kommt – z. B. als Kauf- oder als Arbeitsvertrag – die Gegenseitigkeit von Rechten und Pflichten hinzu. Diese selber aber bleiben für die äussere gegenstandsgerichtete Anschauung verborgen und werden innerhalb dieser nur in dem von ihnen Bewirkten offenbar. Erst auf dem eingeschlagenen Wege der Selbstbesinnung beginnen wir, von der Erkenntnis des Bewirkten zu der des Wirkenden aufzusteigen.

Eine im Sinne unserer gewöhnlichen gegenstandsgerichteten Beobachtung durchgeführte Beschreibung sozialer Prozesse und Institutionen muss daher ein ganz anderes Bild des menschlichen Miteinanders entwerfen, sich ganz andere Gedanken über die erforderlichen sozialen Einrichtungen machen usw. als die hier angeregte Besinnung des Menschen als eines Sozialpartners auf sich selber. Hat Rudolf Steiner mit der Unterscheidung eines Appells «an das Denken über allerlei Einrichtungen» und eines solchen «an die unmittelbare Menschennatur», von der oben die Rede war, diesen methodischen Unterschied miteinbezogen? Und wenn ja, warum? Ist es darum, weil die gegenstandsgerichtete Beobachtung und die auf sie aufbauende Gedankentätigkeit durch sich selbst lediglich zu einer der Naturwissenschaft entsprechenden Seelenhaltung zu führen vermögen, wenn sie nicht durch die Geisteswissenschaft die leitenden Gesichtspunkte empfangen? Die Besinnung des Menschen als eines Sozialpartners auf sich selber und auf seine eigene Menschennatur aber gehört, als einer seiner ersten Schritte, bereits dem geisteswissenschaftlichen Streben an. Das kann besonders dann deutlich werden, wenn wir das in der Selbstbesinnung über die Menschennatur Aufgefundene mit Hilfe des geisteswissenschaftlich bereits Vorliegenden noch weiter zu vertiefen suchen.

Die bisherige Besinnung des Menschen auf sich selber ergab eine dreifache soziale Partnerschaft, zu der er durch seine menschliche Natur selbst veranlagt ist. Als «Bedarfswesen» etwa – so haben wir gesehen - ist er in anderer Art

[Zeitschrift «Goetheanum», Jahrgang 56, Nummer 26, 26.06.1977, Seite 206]

mit seinen Mitmenschen verbunden denn als «Fähigkeitswesen». Wodurch aber stellt sich der Mensch beispielsweise als ein solches «Fähigkeitswesen» vor uns hin? Abgekürzt gesprochen: Durch die Inkarnation dessen, was als geistiges und seelisches Wesen aus vorgeburtlichen Welten herabsteigt und sich den Leib zum tauglichen Werkzeug seiner Fähigkeiten und Begabungen erbildet. Von diesem Vorgang her betrachtet, offenbart sich der Menschenleib als dienendes Instrument der Menschenseele und des Menschengeistes. – Aber er ist nicht nur ein solches; er ist auch ein Wesensglied des Menschen, das dessen übersinnliche Wesensglieder von deren Ursprung in der geistigen Welt abschneidet und sie an die Bedürftigkeit des eigenen Wesens bindet. So kommt es, dass der Mensch im Erdenleben beispielsweise nicht nur der leiblichen, sondern auch der seelischen und geistigen Nahrung durch andere Menschen bedarf. Auch als «Bedarfswesen» steht er also als ein leibliches, seelisches und geistiges Wesen vor dem inneren Blick, nur dass wir hier diese Dreiheit nicht vom geistigen, sondern vom leiblichen Gesichtspunkte her ins Auge fassen müssen. – Und ebenso muss der Mensch als mündiges Wesen in dieser Dreiheit, jetzt aber vom Gesichtspunkte des Seelischen aus, begriffen werden. Das selbständige Seelenwesen des Menschen ist es, das ihn zum mündigen Wesen macht und aus dem heraus er seinen Zusammenhang mit anderen Menschen durch Verabredungen usw. gestaltet. Wie dieses Seelenwesen sich frei nach der Seite des Geistes und der des Leibes wenden kann, so sucht auch der mündige Mensch sein Gleichgewicht zwischen dem Einsatz von Fähigkeiten für andere und der Befriedigung der eigenen Bedürfnisse.

Solche und ähnliche Gedanken sind es, durch die es möglich wird, schon jenes anfängliche Ergebnis der Besinnung des Menschen als eines Sozialpartners auf sich selbst und auf seine eigene Menschennatur zu einer der Grundanschauungen des anthroposophisch erfassten Menschenbildes hinzuführen: zu der in ihrer inneren Dynamik erfassten Gliederung des Menschen in Leib, Seele und Geist.

Ergibt sich aber aus dem Erfassen dieser Dynamik wiederum ein eindringlicheres Verständnis des sozialen Lebens? Es kann kaum bezweifelt werden, dass Rudolf Steiner die Sache so auffasste, wenn wir uns auch nur Formulierungen aus der Schrift Die Kernpunkte der sozialen Frage vor Augen halten wie die folgende über das Eingreifen der individuellen Fähigkeiten des einzelnen Menschen in den sozialen Organismus: «Dieses Gebiet umfasst alles von den höchsten geistigen Leistungen bis zu dem, was in Menschenwerke einfliesst durch die bessere oder weniger gute körperliche Eignung des Menschen für Leistungen, die dem sozialen Organismus dienen.» (Ausgabe 1919, S. 67–68.) Oder über ein anderes Gebiet des sozialen Lebens, das allzuleicht bloss im Sinne einer – selbstverständlich auch vorhandenen – Befriedigung leiblicher Bedürfnisse aufgefasst wird, sagt er: « ... in ihm steht der Mensch durch seine Interessen darinnen, die ihre Grundlage in seinen seelischen und geistigen Bedürfnissen haben.» (Ausgabe 1919, S. 50–51.) – Je mehr es uns gelingt, Gedanken dieser Art zum Inhalt der meditativen Verarbeitung zu machen, desto mehr erhalten diese Gedanken die Kraft, uns ein neues lebendiges Anschauen der sozialen Welt zu erschliessen.

Nicht von dem Schmerz seines unmittelbaren Erlebens, aber doch von dem «so unendlich Traurigen» unserer Gegenwartsituation spricht Rudolf Steiner eineinhalb Monate nach Beendigung des West-Ost-Kongresses im vierten Vortrage des Nationalökonomischen Kurses, wenn er auf eine durch Jahrhunderte währende Gewöhnung des Menschen an eine Gedankentätigkeit hinweist, die ihm heute unmöglich macht, volkswirtschaftliche Prozesse – das aber gilt für soziale Vorgänge überhaupt – innerlich zu durchdenken. In der Naturwissenschaft werden zwar auch Prozesse durchdacht, aber so. «wie sie von aussen angeschaut» werden, wie z. B. ein Chemiker seine Prozesse anschaut. Den volkswirtschaftlichen Prozess aber «machen wir überall innerlich mit» und müssen ihn deshalb auch «innerlich verstehen». Wie aber geschieht dies? Indem wir uns etwa wie ein Wesen erfühlen, das in einer Retorte wäre, ein Wesen, das z. B. die Wärme selber mitmacht, selber mitsiedet. So müssen wir uns durch eine neu zu erringende Beweglichkeit des Denkens mit dem volkswirtschaftlichen Prozess (bzw. mit dem sozialen Prozess überhaupt), mit dem wir ja schon durch unser Leben verbunden sind, auch mit unserem Denken verbinden: Wir müssen lernen, uns auch in ihn «hineinzudenken», um innerlich zu erfassen, was sonst lediglich Objekt äusserer Beobachtung wäre. «Ich würde nicht wahr werden in dem Erfüllen dessen, was Sie verlangt haben», wendet sich Rudolf Steiner zum Abschluss an seine Zuhörer, «wenn ich die Sache anders darstellen würde, als ich sie darstelle.» Aber: «Dadurch ist die Sache von Anfang an etwas schwierig.»

Um diese Schwierigkeit sichtbar zu machen und sie allmählich zu überwinden, dazu versuchte die voranstehende Darstellung eine Hilfe zu bieten. Denn eben durch jene Besinnung des Menschen auf die Art und Weise, wie er durch seine eigene Menschennatur notwendig für andere Menschen Partner wird, kann der Mensch für dasjenige erwachen, mit dem er unbewusst durch sein Leben von vornherein verbunden ist. Wie wir gesehen haben, stellt es sich, so erfahren, als ein Gewebe von Beziehungen dar, das sich als aus dreifach verschiedenen Fäden gewoben erweist. Selbstverständlich kann es sich nicht darum handeln, bei dem Anblick, den man von seinem Ort in diesem Gewebe innerlich hat, stehenzubleiben; es kommt vielmehr darauf an, die Erforschung von näher gelegenen in fernere Gebiete der sozialen Welt fortzusetzen. Aber auch diese Forschung verläuft im Sinne der anthroposophisch orientierten Sozialwissenschaft so, dass wir uns auch jetzt, wie Rudolf Steiner es ausdrückt, nicht «in einem Luftballon weit hinauf begeben», um den sozialen Organismus anzuschauen wie ein Chemiker seine Prozesse von aussen anschaut, sondern sie gelingt uns nur insofern, als es uns gelingt, uns geistig auch in diejenigen Situationen zu versetzen, in denen andere Menschen in diesem Beziehungsgewebe leben.

Eine lebensfähige Lösung der Probleme, die der soziale Organismus uns heute stellt, kann nach Rudolf Steiner nur dadurch gefunden werden, dass dieser Organismus «dreigegliedert» wird. Was jedoch ist mit dieser Dreigliederung gemeint? Vom Gesichtspunkt des hier Dargelegten bieten sich mehrere Fragemöglichkeiten an: Handelt es sich dabei um etwas in der Struktur des sozialen Organismus bereits Vorhandenes? Oder ist damit etwas gemeint, was es in dem heutigen sozialen Organismus noch nicht gibt, sondern erst tätig in ihn hineingetragen werden muss? Oder geht es darum, ein schon im Leben dieses Organismus bereits verborgen Veranlagtes durch die Tätigkeit der beteiligten Menschen zur Erscheinung zu bringen, wie etwa der Künstler zur Erscheinung bringt, was schon verborgen in dem zu bearbeitenden Materiale lebt? – In dem Aufsatz «Menschenbegegnung als soziales Urphänomen» wurde dargestellt, wie der gegenwärtige Mensch durch sich selbst weniger ein soziales, als vor allem ein antisoziales Wesen ist; jedoch ein solches, das die Anlage in sich trägt, eine neue Sozialität aus sich hervorzubringen. Denn auch in sozialer Beziehung ist der Mensch ein sich entwickelndes Wesen. An späterer Stelle soll gezeigt werden, wie diese Entwicklung, sinngemäss auf das hier in der Selbstbesinnung Aufgefundene angewandt, jedem einzelnen Menschen die Möglichkeit gibt, an einer sozialkünstlerischen Gestaltung der menschlichen Gesellschaft mitzuarbeiten. Denn so kann an die Stelle des Denkens über «allerlei Einrichtungen» die entscheidende Alternative treten: die konkrete Entwicklung neuer sozialer Einrichtungen aus der Initiative der beteiligten Menschen heraus.

[Zeitschrift «Goetheanum», Jahrgang 56, Nummer 26, 26.06.1977, Seite 207]