Waldorfschule und Dreigliederungsgedanke

01.07.2007

An welchen sozialen Ideen orientiert sich die Waldorfschule?

Die meisten Eltern, die mit ihrem Kind neu an eine Waldorfschule kommen, sind in erster Linie angezogen von der besonderen, an der Entwicklung des Kindes orientierten Pädagogik. Daneben ist es wichtig, sich auch bewußt zu machen, daß die Waldorfschule auf dem Gedanken der Selbstverwaltung aufbaut. Ohne Selbstverwaltung ist Waldorfpädagogik nicht denkbar. Das bedeutet, daß die Waldorfschule nicht nur eine pädagogische, sondern zugleich auch eine neue Initiative in der Gestaltung des sozialen Miteinander ist.

Wie sieht eine sachgerechte Aufteilung der Aufgaben und Befugnisse zwischen Lehren und Eltern aus? Welche Gestaltung dient am besten den pädagogischen Zielsetzungen der Waldorfschule.

Es gibt viele unterschiedliche Ideen und Auffassungen von der Waldorfschule, die u.a. in folgende Begriffe gefaßt werden können: Freiheit der pädagogischen Betätigung, Mitspracherecht der Eltern, Alleinentscheidung der Lehrer, Selbstverwaltung, Lehrerrepublik, demokratische Schule, Transparenz, Plausibilität von Entscheidungen, der Gründungsimpuls der Waldorfschule, Bewußtseinsseelenzeitalter, der Geist der Schule ...

Es soll im folgenden der Versuch unternommen werden, einige Gesichtspunkte aufzuzeigen, die eine Orientierung an den Notwendigkeiten einer in die Freiheit gestellten Pädagogik ermöglichen.

Was bedeutet "Dreigliederung des sozialen Organismus"?

Über dieses Thema gibt es eine Fülle von einführenden und weiterführenden Veröffentlichungen. An dieser Stelle sollen nur einige grundlegende Hinweise gegeben werden, um die Fragestellungen bewußt zu machen.

Zunächst ist festzuhalten, was die Dreigliederungsidee nicht ist:

Ein festes System, ein fertiger Gesellschaftsentwurf, etwas das man nur verwirklichen muß und dann wird alles gut.

Hierin liegt der Unterschied zu vielen immer wieder scheiternden Ideen, die ein System durch ein anderes ersetzen wollen ohne an der Wirklichkeit anzuknüpfen. Dreigliederung bedeutet vielmehr, daß man bei einem unbefangenen Blick auf die gesellschaftlichen Funktionen eine Aufgabenverteilung erkennen kann und daraus Gestaltungsprinzipien entwickelt.

Ein Beispiel:

Die Schule hat die Aufgabe, die Entfaltung der in den jungen Menschen veranlagten Fähigkeiten zu fördern. Das setzt voraus, daß - zunächst ohne weitere äußere Voraussetzungen aufzustellen - darauf hingeblickt wird, was der junge Mensch an Fähigkeiten mitbringt.

Hiervon muß die Fragestellung getrennt werden, welche Berufsbilder, Fähigkeiten und Anpassungen die Wirtschaft bei ihrer Nachfrage nach Arbeitskräften voraussetzt.

Die Entfaltung von Fähigkeiten muß frei sein, denn bei einer Lenkung durch wesensfremde Anforderung, die nicht im Kind begründet sind, kann das eigentlich Veranlagte verkümmern.

Die Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus geht von einer wesensmäßigen Verschiedenheit von drei gesellschaftlichen Bereichen aus:

Geistesleben - Rechtsleben - Wirtschaftsleben.

Geistesleben (Freiheitsgedanke)

Das Geistesleben hat es mit der Entfaltung und Anwendung von Fähigkeiten im weitesten Sinne zu tun. Es kann sich um hochwissenschaftliche Arbeiten, um die Erteilung von Unterricht oder um das Umgraben des Schulgartens handeln, - überall werden Fähigkeiten eingesetzt.

Das Geistesleben funktioniert, wie schon erwähnt, nur dann optimal, wenn der dort geltende Grundsatz die Freiheit ist.

Wirtschaftsleben (Gedanke der Brüderlichkeit)

Das Wirtschaftsleben hat die Aufgabe, die Bedürfnisbefriedigung der Menschen sicherzustellen. Hier sind angesiedelt die Warenerzeugung, die Verteilung der Waren und der Warenverbrauch.

Dieser Aufgabe des Wirtschaftslebens wird der zweite Grundwert der Französischen Revolution, nämlich die Brüderlichkeit zugeordnet.

Hierdurch wird die Überwindung des reinen Egoismus (Profitprinzip) angesprochen. Es kommt auch zum Ausdruck, daß es im Wirtschaftsleben nicht, wie im Geistesleben, um die reine persönliche Entfaltung geht, sondern um ein Miteinander. Die Brüderlichkeit darf aber nicht mit der Gleichheit verwechselt werden. Nicht jeder Mensch hat die gleichen Bedürfnisse. Von Rudolf Steiner wird hier die Bildung von Assoziationen, also Zusammenschlüssen von Erzeugern und Verbrauchern vorgeschlagen, die die Fragen des Wirtschaftslebens regeln.

Rechtsleben (Gleichheitsgedanke)

Welche Aufgabe und welchen Inhalt hat nun der dritte Bereich, das Rechtsleben? Durch das Rechtsleben wird die für alle verbindliche Ordnung geschaffen. Weder die Abschaffung jeglicher Verbindlichkeit und damit ein völlig beliebiges unvorhersehbares Handeln, noch starre Strukturen sind sinnvoll. Es muß durch das Rechtsleben einerseits erreicht werden, daß die Verhältnisse von Mensch zu Mensch vorhersehbar sind und notwendige Ansprüche eingeräumt werden. Zum Beispiel: Die Bezahlung eines Lehrers kann nicht davon abhängig gemacht werden, wieviel die Schule am Monatsende bezahlen möchte. Der Lehrer benötigt eine Vorhersehbarkeit seiner Einnahmen. Auf der anderen Seite benötigt die Schule die Gewißheit, daß ihm der Lehrer mit seiner Arbeitskraft in der nächsten Zeit zur Verfügung steht. (Es kann hier leider nicht der berechtigten Frage nachgegangen werden, ob die Koppelung von Arbeit und Lohn sinnvoll ist) Das Rechtsleben wird also bestimmt durch das Verhältnis von Mensch zu Mensch und daher gilt hier der Grundgedanke der Gleichheit: Jeder Mensch ist Gottes Ebenbild.

Was bedeuten diese Ideen für die Schule ?

Zunächst ist festzustellen, daß das Schulwesen in der Gesellschaft im Bereich des Geisteslebens beheimatet ist. Es geht um die Entfaltung von Fähigkeiten bei den Schülern und um den Einsatz pädagogischer Fähigkeiten bei den Lehrern. Die Grundstruktur des Schulwesens muß sein, daß dieses frei von Fremdbestimmung ist. Die Fähigkeiten müssen sich frei entwickeln können.

Diese Einsicht vermittelt eine Grundvorstellung davon, wie das Schulwesen verfaßt sein muß. Erforderlich ist nach außen eine Unabhängigkeit von staatlichen Vorgaben. Aufgabe des Staates ist es lediglich, das aus dem Menschsein entspringende Recht auf Ausbildung dadurch sicherzustellen, daß die Entstehung und der Betrieb von Schulen unterstützt wird ("Bildungsgutschein").

Die inhaltliche Ausgestaltung ist die Aufgabe der Schulen selbst.

Im Schulorganismus selbst (in der "Binnenstruktur") finden sich die Funktionen Geistesleben, Wirtschaftsleben, Rechtsleben wieder. Es gibt den pädagogischen Kernbereich (z.B. Unterricht, Kollegiumsstruktur), den wirtschaftlichen Bereich (z.B. finanzielle Ausstattung, Elternbeiträge, Lehrergehälter) und den rechtlichen Bereich (z.B. Schulverträge, Arbeitsverträge, Kündigungen). Die Aufgabe von Eltern und Lehrern ist es nun, die jeweils richtige Aufgabenverteilung zu finden.

Unschwer läßt sich ersehen, daß der pädagogische Kernbereich von der Lehrerschaft wahrgenommen wird. Die Bereiche der wirtschaftlichen und rechtlichen Gestaltung werden hingegen von Eltern und Lehrern gemeinsam gestaltet. In der Oberstufe ist auch noch über eine angemessene Beteiligung der Schüler/innen nachzudenken.

Die vor uns liegenden Aufgaben

Wenn es auch in der Praxis nicht immer gelingt, so ist die Schulgemeinschaft doch vor die Aufgabe gestellt, die Gestaltung als einen sozial-künstlerischen Prozeß aufzufassen. Der Prozeß einer Neugestaltung sozialer Strukturen, wie er in der Waldorfschule als Aufgabe und Notwendigkeit gesehen wird, setzt eine gute Portion Geduld und Idealismus voraus. Schließlich müssen wir alle uns durch einen Berg von Menschlichem/Allzumenschlichen arbeiten und eine ideale Struktur, wie auch eine ideale Pädagogik, läßt sich nur Stück um Stück verwirklichen.

Die Grunderkenntnis muß sein, daß die Waldorfpädagogik auf der Freiheit der Verantwortlichen und damit auf einer neuen sozialen Gestaltung aufbaut. Es ist wichtig, sich gewachsene Strukturen bewußt zu machen und diese dann auszufüllen oder die Strukturen durch neue Ideen zu ändern oder zu ergänzen.

Voraussetzung ist die Bereitschaft vieler Interessierter, aktiv mitzugestalten.

Die Orientierung an folgendem Spruch Rudolf Steiners kann hierbei hilfreich sein :

Leben in der Liebe zum Handeln
und Lebenlassen im Verständnis des fremden Wollens,
ist die Grundmaxime des freien Menschen.