Hibernia – Lehrwerkstatt wird Gesamtschule

27.05.2024

Dr. Klaus Fintelmann wirkte ab 1950 in der Montanindustrie zur Einführung der Mitbestimmung und fand dabei Kontakt zum Direktor Dr. Reinhold Boerner des Stickstoffwerks Hibernia in Wanne-Eickel (heute Herne). Sie vereinbarten, nach dem Vorbild der Möbelfabrik Behr in Wendlingen, den 70 Lehrlingen eine erweiterte Bildung auf der Basis der Waldorf-Pädagogik zu gewähren, in den Berufsfeldern Elektriker, Dreher, Schlosser, später auch Chemiefacharbeiter.

Die klassischen „Facharbeiter“-Ausbildungen sollten ergänzt werden um allgemeinbildende Fächer und Kunst, um über eine ganzheitliche Bildung kreative Fähigkeiten kritische Urteilsfähigkeit zu wecken. Die Arbeitstage begannen mit Epochenunterricht, für die Altersstufen 14 bis 16 Jahre und endeten in Zeitabschnitten mit Kunstunterricht. Die sehr einseitige praktische Bildung der Berufsfelder wurde erweitert durch das Arbeiten und Gestalten mit verschiedenen Werkstoffen, vor allem mit Holzwerken, Kupfertreiben und Schmieden, sie wurden über einige Wochen zu Beginn der Ausbildungszeit in der Werkstatt gepflegt. Dies wurde ab 1952 in Stufen realisiert (1). Ich berichte darüber in einem Buch (2):

Im Jahre 1954, ich war gerade 16 geworden, empfahl mir mein Vater, das Gymnasium zu verlassen und in eine Lehre zu wechseln, die im Werk, in dem er die Bauabteilung leitete, eingerichtet worden war. Es war das Stickstoffwerk Hibernia in Wanne-Eickel, in dem Ort, der durch den Schlager von Friedel Hensch & Die Cyprys deutschlandweit besungen wurde:

„… Nichts ist so schön
wie der Mond von Wanne-Eickel,
die ganze Luft ist erfüllt von ewigem Mai,
und jede Nacht am Kanal von Wanne-Eickel
ist voller Duft wie die Nächte von Hawai.“

Das war eine Lügen-Arie: Tatsächlich war der Mond hier stets vergrößert, orange bis blutrot leuchtend, „dank“ dem Mix aus Kohlestaub und Schwefel. Das Stickstoffwerk mit gelb-grauen Abgasfahnen erzeugte aus Kokerei-Gas Stickstoffdünger und reizte damit chronisch unsere Luftröhren, Mandeln und Lungen. Meine malträtierten Mandeln wurden bald per Operation von ihrem vergeblichen Bemühen der Luftreinigung erlöst.

In dieser von Giftgasen geschwängerten Atmosphäre gab es die Lehrwerkstatt, in der neben der Arbeit am Schraubstock, in der Schmiede, in der Elektrowerkstatt, im Chemielabor jeden Werktag von sechs bis acht Uhr „Epochenunterricht“ stattfand: Über einige Wochen wurde täglich das gleiche Fach gelehrt, von jedem wurde eine Art Protokoll mit Text, Zeichnungen und Bildern verfasst und gestaltet: das Epochenheft. Dieses wurde vom jeweiligen Lehrer mit Worten beurteilt. Das erlebte ich als viel wohltuender, ja effizienter, als die täglichen sechs Fachstunden des Gymnasiums. Mein Interesse wuchs, als wir 27 Lehrlinge unseres Jahrgangs – es gab nur Jungen – angeregt wurden, Gemeinsames zu planen und zu unternehmen.

Dadurch lernten wir, einander zu verstehen und zu helfen! Für die Werkstattarbeit durften wir immer wieder Eigenes entwerfen, skizzieren und zeichnen und dann herstellen: Ich entwarf Pflanzstock und Kerzenleuchter, Schreib-Zeichentisch und Bücherregal sowie eine Kilogramm schwere Teleskop-Gelenkwelle für einen Motorenprüfstand. So konnte ich immer wieder stolz selbst Hergestelltes vorweisen. Dazu kamen technisches und künstlerisches Zeichnen, sogar Malen und Plastizieren: Ich war bei „Waldorfs“ angekommen! Und fühlte mich viel wohler als auf dem Gymnasium mit seinem autoritären Klima. Dabei ernteten wir „Hibernianer“ unter Freunden anderswo eher spöttische und sarkastische Kommentare, wenn wir aus unserem Waldorf-Werkstatt-Leben berichteten: „Damit könnt ihr nichts werden – was fängt man damit an?“ hörten wir. Diese Häme führte uns zum Entschluss: Wir schaffen alle unsere Facharbeiterprüfungen vor der strengen Industrie- und Handelskammer Essen-Bochum mit den Noten sehr gut oder gut! Mit diesem Ziel übten wir, halfen uns gegenseitig in Testprüfungen und bestanden, natürlich jeder auf sich allein gestellt, ohne Ausnahme alle mündlichen und praktischen Prüfungen mit Bestnoten!

Nun wollte ich doch mehr über diese Pädagogik erfahren und besorgte mir Informationen: Die Waldorf-Astoria Zigarettenfabrik in Stuttgart war im Jahre 1919 das erste Unternehmen, das eine Schule für die Kinder der Mitarbeitenden eingerichtet hatte, unter aktiver Mitwirkung Rudolf Steiners, der zuvor die „Betriebsräte“ geschult hatte – die erste Waldorfschule. „Kopf, Herz und Hand“, diese drei standen …

Noch bevor im Ruhrgebiet in den achtziger Jahren und auch im legendären Hibernia-Konzern die Zechen geschlossen, die Kokereien abgerissen und die Stickstofferzeugung eingestellt wurden, wanderte die Lehrwerkstatt aus und wurde 1964 auf einem eigenen Gelände zur Hibernia-Schule. Auf der Basis der Waldorfpädagogik vom Kindergarten zu Facharbeiter-Ausbildungen mit Mittlerer Reife sowie Abitur-Abschlüssen. Im Jahre 2002 feierte sie (unter Einschluss der Lehrwerkstatt) ihr 50-jähriges Bestehen. Der damalige Bundespräsident Johannes Rau schrieb das Grußwort zur Festschrift, darin heißt es: „Zu den Freunden der Hiberniaschule zähle auch ich mich, denn ich bin ihr seit vielen Jahren verbunden. Mich hat von Anfang an ihr Grundgedanke überzeugt, schulische, handwerkliche und berufliche Ausbildung zu verbinden. Ich bin immer wieder beeindruckt davon, mit wieviel persönlichem Einsatz und Einfallsreichtum die Hiberniaschule ihr anspruchsvolles Programm verwirklicht. Sie setzt die Forderung, den ganzen Menschen zu bilden, wahrlich in die Tat um und ist damit verdientermaßen weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt und zumVorbild geworden.“ Viele Prominente, darunter auch die Ministerin für Schule, Wissenschaft und Forschung, Gabriele Behler, kamen zum Festakt und lobten die gelungene „Integration von beruflicher und allgemeiner Bildung“ sowie die „Gesamtschule nach der Pädagogik Rudolf Steiners“. Auch ich war eingeladen und sprach über meine guten Erfahrungen, die ich vor allem der so weit gefassten Schlosserbildung verdanke, auch unmittelbar mit der Kultusministerin. Bei allem Lob und überschwänglicher Anerkennung frage ich mich immer wieder, warum die verantwortlichen Politiker aus ihren Positionen heraus, nicht solche Schulen allerorten ins Leben rufen? Wenigstens einige, als Versuch, mit „wissenschaftlicher Begleitung“?*

Die „Hibernia-Schule“ in Herne unterrichtet auf der Basis der Waldorfpädagogik aktuell etwa 1000 Schüler*innen. Von der 7. bis zur 10. Klasse ist der allgemeinbildende Unterricht erweitert zur „Berufsgrundschule“. Darauf folgt in zwei Jahren die berufliche Fachstufe in den Berufsfeldern Maßschneiderei, Tischlerei, Elektronik, Feinwerkmechanik, Kinderpflege – sie schließt mit entsprechenden Gesellenbriefen ab. Daneben erwerben die Schüler*innen nach individueller Wahl den Hauptschulabschluss, die Fachhochschulreife oder das Abitur – dies im „Hibernia Kolleg“.

Anmerkungen

(1) Georg Rist, Peter Schneider: Die Hibernia-Schule – von der Lehrwerkstatt zur Gesamtschule, Hamburg, 1977

(2) Karl-Dieter Bodack: Ein Leben mit Spuren – Als Anthroposoph bei der deutschen Bahn, Frankfurt, 2. Auflage 2021. Darin sind Grundlagen und Erfahrungen aus Arbeiten mit der „sozialen Dreigliederung“ in Behörde, Unternehmen, Schule und Hochschule dargestellt.